Formen jenseits ihrer Erscheinung

Ibrahim Mahama

Ibrahim Mahamas großflächige Interventionen an Architekturen sind dem europäischen Kunstpublikum entweder seit der 56. Ausgabe der Venedig-Biennale unter der Leitung des nigerianischen Kurators Okwui Enwezor oder spätestens seit der documenta14 im Jahr 2017 bekannt.


Dabei begann seine Arbeit an monumentalen Installationen bereits Jahre zuvor in seinem Heimatland Ghana. Realisiert mit erheblichem kollektiven Arbeitsaufwand, zeugt seine künstlerische Praxis von einer performativen Ebene, die im Prozess sichtbar wird: Bauwerke von institutioneller oder strategischer Wichtigkeit (unter anderem Nationaltheater in Accra 2014) werden von Mahama mit dunklen Jutesäcken verhüllt und in eine zweite Haut gepackt. Allerdings wollen die Hüllen nicht verschleiern, sondern entblößen, sie offenbaren ein zweites Narrativ hinter festgelegten Formen.

Der Künstler blickt gewissermaßen hinter die Fassaden und offensichtlichen Erscheinungsformen. In einem Gespräch mit Kuratorin Antonia Alampi über seine Intervention an den Mailändern Stadttoren im Jahr 2019 appelliert er an den westlichen Kunstkanon, Formen jenseits ihres äußeren Erscheinungsbildes lesen zu lernen (https://flash---art.com/2019/05/ibrahim-mahama)Wie einem archäologischen Prinzip folgend, zeigt der Künstler die Sedimentierung von Vergangenem. Die ideologischen Implikationen einer Bauweise interessiert Mahama genauso wie die politischen und wirtschaftlichen Verstrickungen von Materialien.

Er deckt die Geschichte von Sklaverei und Migration sowie den Bezug zur heutigen Globalisierung auf, die er in der Materialität der Jutesäcke eingeschrieben sieht: In jeder Faser des Stoffes sind die Spuren menschlicher Arbeit verwoben. Die Jutesäcke – in Südostasien hergestellt, für den Kakaotransport nach Ghana importiert und weltweit verschifft – als Inbegriff von kapitalistischer Transaktion über den Atlantik hinweg verbinden über Kontinente mehrere Orte und unterschiedliche Zeiten. Globale Netzwerke werden greifbar gemacht.

Ibrahim Mahana; Foto: Caso Burbano

Auch die aktuelle Schau „Garden of Scars“ in den Niederlanden verknüpft die grausame Vergangenheit des Sklavenhandels mit zwei unterschiedlichen Orten: Amsterdam und die Küste Ghanas, die Kirche Oude Kerk und Fort Elmina. In der Kirche, dem ältesten erhaltenen Bauwerk Amsterdams, das auch für Ausstellungen und Konzerte genutzt wird, befinden sich hunderte von Skulpturen und Abgüssen von Grabsteinen. Mahama sieht die Grabsteine als eine Form des kollektiven Gedächtnisses und hinterfragt die sozialen und politischen Aspekte ihrer Entstehung.

Er führt die Familiengeschichten der in der Kirche begrabenen Kaufleute, Kapitäne oder Bürgermeister mit den Spuren der Geschichte der alten holländischen Festungen entlang der Küste Ghanas zusammen, wo der Kolonialhandel seinen Anfang nahm. Fort Elmina diente zunächst dem Goldhandel und spielte später eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des transatlantischen Sklavenhandels. Scars, Narben also, sind in Mahamas Skulpturen sichtbar, es sind keine makellosen Abbilder der Helden der Geschichte, vielmehr hinterlässt die brutale Realität des unwiderrufbar Geschehenen tiefe Wunden. Die Risse und Kratzer symbolisieren für den Künstler die Geschichte des Scheiterns und einer Erinnerung. Weiter lesen Sie in unserer PARNASS Winterausgabe.

Ausstellungsansicht, Ibrahim Mahama, Garden of scars, 2022, Oude Kerk, Foto: Gert Jan van Rooij

Lese-Tipp

Elisabeth Falkensteiner, Ibrahim Mahama, Baerbel Mueller (Hsg.): Ecologies & Politics of the Living, Universität für angewandte Kunst Wien, 2021.

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