Berlinischen Galerie

Herzrasen inklusive Herzstillstand: Alicja Kwade

Die große Einzelausstellung von Alicja Kwade in der Berlinischen Galerie zeigt die Künstlerin „In Abwesenheit“. Doch zumindest ihr Herzschlag und die Bausteine ihrer menschlichen Existenz sind anwesend: als reine Metalle und als Zahlenkolonnen. Eine Ausstellungsbesprechung aus Berlin.


Was ist der Mensch? Die Antwort ist einfach und wiegt schwer: Der Mensch, das sind 314.000 eng bedruckte Seiten weißen Papiers. Das mag nicht unbedingt eine befriedigende Antwort sein, doch es ist eine umfassende. Das menschliche Genom passt auf diese 314.000 Seiten, aber nicht an die Wände der großen Eingangsausstellungshalle des Berliner Museums für Moderne Kunst. Für ihre aktuelle Einzelausstellung dort hat sich die Künstlerin Alicja Kwade ihr Genom komplett auslesen lassen, hat die Buchstabenkombinationen auf A4-Papier gedruckt und die Wände der Ausstellung damit tapeziert.

Wie immer bei den Arbeiten von Alicja Kwade, die verspiegelte, aber immerhin tickende Uhren aufhängt und ein Sonnensystem auf dem Dach des Metropolitan Museum in New installiert hat, sind wissenschaftliches Interesse, Formenspiel und Mehrdeutigkeit nah beieinander. Denn wurde nun mit dem Genom das Innerste nach Außen gekehrt? Der Bauplan der Alicja Kwade publik gemacht? Wo findet man das Gen für die künstlerische Idee, wo das für die Fähigkeit ihrer Umsetzung in ästhetisch überzeugende Werke und Bilder? In einer der Truhen aus Kupfer, die 302.000 Blätter enthalten und im Raum verteilt sind, in einer der Sequenzen auf den 12.000 Blättern, die an der Wand hängen? Oder doch auf dem einen Blatt, dass als Foto auf dem Schreibtisch neben dem Computer liegt, auf dem dieser Text entstanden ist? Die Spekulation bleibt Teil des Kunstwerks, das überwältigend riesig und sehr, sehr zart ist. Denn nur wer nah an die Blätter herantritt, sieht die aufgedruckten Buchstabenkolonnen. Aus der Ferne wirken die Blätter unbeschrieben weiß.

Eröffnung „Alicja Kwade. In Abwesenheit“, Foto: © Oana Popa

Die Kunst von Alicja Kwade: sehr aufgeräumt und fein geordnet

Die Kunst von Alicja Kwade sieht auf den ersten Blick meist so aus, wie diese Arbeit, die sie „Gegebenenfalls die Wirklichkeit“ nennt: sehr aufgeräumt, fein geordnet und von wissenschaftlichen Erkenntnissen angeregt. Doch auf den zweiten Blick findet die Berliner Künstlerin vor allem immer wieder neue Bilder für das Rätsel des Lebens auf der Erde. Und für die Lösungen, die die Wissenschaften gefunden haben. So ist bekannt, dass der Mensch aus einigen wenigen chemischen Elementen besteht. Alicja Kwade macht daraus Selbstporträts, indem sie die Elemente Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und 20 andere jeweils in Reinform in kleine Glasampullen abfüllt und nebeneinander aufreiht. Der Mensch wird zum Kunstwerk ohne individuelle Form und Besonderheit und das Selbstporträt der Künstlerin wird zum Porträt des Bauplans allen menschlichen Lebens.

Das Konzept dieser Ausstellungsreihe in der Berlinischen Galerie ist so simpel wie erfolgreich: Berliner Künstler bekommen die Gelegenheit, den großen, über alle Stockwerke der Galerie reichenden Eingangssaal mit einer exklusiven Ausstellung zu bespielen. In den vergangenen Jahren gestalteten ihn unter anderem John Bock, Monica Bonvicini, Raphaela Vogel, Carsten Nicolai mit neusten Arbeiten. Alicja Kwades Schau ist eine Innenschau, die das Innere nach außen kehrt und künstlerische Arbeiten daraus macht. Sie kulminiert in einem riesigen Stahlring, an dem 24 Lautsprecher hängen aus denen relativ gleichförmige, rhythmische Töne den Saal erfüllen. Sie übertragen den Herzschlag der Künstlerin „in seiner Einzelpräsenz und Vervielfältigung live“ in den Ausstellungsraum, heißt es. Wer den Tönen lauscht gerät leicht in Sorge um die Künstlerin, denn die Vervielfältigung suggeriert zeitweise heftiges Herzrasen. Doch zur Sorge besteht wohl kein Anlass, denn die 1979 in polnischen Katowice geborene Künstlerin, die seit ihrem Studium an der Universität der Künste in Berlin lebt und arbeitet, beschäftigt sich intensiv mit den Naturwissenschaften ebenso wie mit Theologie und Philosophie, „da sie alle versuchen, die gleichen Fragen nach unserem Dasein und unserer Realität, oder dem, was wir so nennen, zu beantworten“, sagt Kwade. Diese Fragen versuche sie in eine künstlerische Geste umzuwandeln.

Ausstellungsansicht „Alicja Kwade. In Abwesenheit“, Foto: © Roman März

Berlinische Galerie

Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin-Schöneberg
Deutschland


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