Weibliche Kraftanstrengung | Artemisia
Artemisia Gentileschi (1593–1654) warf einen neuen Blick auf althergebrachte Sujets. Die Londoner National Gallery widmet dem Superstar der Barockmalerei eine große Ausstellung und zeigt, wie bewusst die Künstlerin ihre Rolle reflektierte.
Es ist erstaunlich, welchen Siegeszug Artemisia Gentileschis Werk „Judith und Holofernes“, entstanden um 1620, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten antrat. Das „Signature Piece“ feministischer Kunstgeschichte, mit dem die Malerin einst ihre unglaubliche Erfindungsgabe bewies, prangt nicht nur seit den 1970er-Jahren auf Specials zu Kunst von Frauen, sondern wurde 2018 auch auf Social Media stark verbreitet – im Zuge des Prozesses um US-Richter Brett Kavanaugh, der trotz massiver Vorwürfe sexueller Gewalt für den Obersten Gerichtshof nominiert und schließlich vereidigt wurde.
Die grandiose Wut, die aus Artemisias „Judith und Holofernes“ spricht, besticht bis heute. Das Bild demonstriert die Genialität der Malerin: Auf diese Art hatte man dieses Sujet bis dahin noch nie gesehen. Jene Kraftanstrengung, die das Abhacken eines Kopfes kostet, wurde in früheren Versionen stets elegant übergangen. Im Vergleich zu Caravaggios Gemälde, bei dem Judith mit ausgestrecktem Arm und kaum irritierter Miene den Kopf des Feindes absäbelt – so, als koste es nicht mehr Kraft als das Abschneiden eines Salamiblatts – geht es hier realistischer zu. Artemisia Gentileschis Komposition wirkt zudem wie eine Hymne an die weibliche Solidarität. „Zwei Frauen vereint bei derselben Arbeit, die Arme derart miteinander verflochten, dass ihre Muskelkraft sich zu ein- und demselben Zweck verbindet: die Überwindung einer enormen Masse,“ beschrieb Roland Barthes das Gemälde.
Erstaunlicherweise ist die Version in den Uffizien weitaus bekannter als die früher entstandene, die dem Museo di Capodimonte in Neapel gehört. Nun sind die beiden Werke nebeneinander vereint: in der epochalen Ausstellung der Londoner National Gallery mit dem schlichten Titel „Artemisia“, die von einer Reihe anderer Aktivitäten in diesem Jahr begleitet wird. Erst kürzlich kamen zwei neue Monografien über die wichtigste Künstlerin des italienischen Barock heraus, eine vom „Guardian“-Kunstkritiker Jonathan Jones, eine von Mary D. Garrard, der Pionierin feministischer Kunstgeschichtsschreibung. Dazu soll das Leben der Heroine zum Stoff für eine TV-Serie werden, die im nächsten Jahr in Produktion geht.
Den ganzen Beitrag lesen Sie im PARNASS 04/2020.
National Gallery
Trafalgar Square, WC2N 5DN London
Vereinigtes Königreich