Belvedere 21

Renate Bertlmanns große Retrospektive zeigt nicht nur Fragile Obsessionen

Die jung gebliebene Achtzigjährige, erste Vertreterin der 58. Biennale 2019, die den österreichischen Pavillon allein bespielen durfte, hat mit ihrem subversiven Politprogramm seit den 1970er Jahren krisenhafte Entwicklungen mit ihrer gesellschaftskritischen Kunst voraus erkannt.


Kuratorin Luisa Ziaja gelang es nicht nur die frühen Originalwerke aus fragilen Materialien wie Latex, Tüll und buntem Plexiglas aus den verschiedensten Sammlungen zu bekommen, sondern auch einen roten Faden durch den hochkreativen Seiltanz zwischen „Zorn und Zärtlichkeit“ zu spannen. Halbwegs chronologisch, sich aber auch ikonografisch in Themenkreisen einpendelnd, starten die frühen Jahre als „Experimente in weiblicher Wahrhaftigkeit“. Auf die 1970er Jahre als Pionierin feministischer Performances und fotografischen Selbstinszenierungen zwischen „Zorn und Zärtlichkeit“ folgt ein weiter dynamisch polarisierender Kapitelabschnitt, „Verletzlichkeit und Eigensinn“, in dem Tod und Kitsch hart aufeinanderprallen. Die Haut – in zentralen Installationen wie „Waschtag“ durch das haptische Material Latex als Matten und Schnüre mit Fortsätzen, Schnuller wie Phalloi verkörpernd, kann von streichelweich mit Messerklingenspitzen zu wehrhaft wechseln.

Besonders im Kapitel „Kitsch als lustvoller Tabubruch“ kommt ihre beste Waffe sichtbar zum Einsatz. Der ironische Blick auf patriarchale Strukturen in Kirche und Staat, was Bertlmanns Kunst lange ins Abseits drängte: am Kunstmarkt und in musealen Institutionen wurde sie von den Protagonisten der Kunstszene als unbequem wie seicht abgetan. Sie reagierte auf den lächerlichen Ernst und die Abweisungen mit subversiven Werken wie der „Wurfmesserbraut“ – das Hauptwerk wurde 2004 für die Sammlungen der Stadt Wien angekauft. Die Einteilung ihrer vielfältigen Ideen nahm sie unter dem Übertitel „Amo ergo sum“ und drei Farben für die Themenkomplexe Pornografie (rot), Ironie (gelb) und Utopie (blau) selbst vor, es entsprach schon ab 1980 ihrem theoretischen Wirken in Lehre und Vorträgen, Symposien und kuratorischen Projekten. Sie schrieb für politische Zeitschriften, pflegte das Teamwork, ua. mit Linda Christanell, Andrea Kalteis, zuletzt Katharina Daschner, wirkte in der Künstlerinnengruppe IntAkt und der Fotoinitiative Fluss mit.

Neben neuen Medien wie Video und allen Varianten der analogen Fotografie, schuf sie Skulpturen und Objekte – Installationen wie den Altar „Wann werden uns die Theologen endlich was von Zärtlichkeit erzählen“, sind im Belvedere 21 erstmals zu sehen.

Ausstellungsansicht "Renate Bertlmann. Fragile Obsessionen", Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien © Bildrecht, Wien 2023

Große Buntstiftzeichnungen wie „Frühlingserwachen“ fangen den Phallus als Pilz in der Blumenwiese ein, noch enger wird es für ihn in den für Wien charakteristischen Schneekugeln oder in Vitrinen, in denen farbige Godemichés wie die Puppen etwa zu Kardinälen bekleidet oder zu Insekten verwandelt werden. Die „Feldarbeit zum Anderssein“ nehmen ihr zuweilen auch die Feministinnen übel.  

Von den rund fünftausend Werken ihres Ouevres finden immerhin 200 im 1. Stock des Belvedere 21 Platz. An diesem Ort war Bertlmann Teil der Schau „Kunst mit Eigensinn. Aktuelle Kunst von Frauen“ schon 1985 vertreten, davor in den Avantgardegalerien nächst St. Stephan, Hummel und Grita Insam, aber auch im form stadtpark Graz, im Frauenmuseum Bonn, in Amsterdam, Düsseldorf, Luzern und New York. Der deutsche Fotokünstler Jürgen Klauke sieht das Werk der Künstlerin besonders in den fluiden Geschlechterrollen als Parallelkation. Dies macht klar, dass der heutige Mythos der allzu spät „Erkannten“ nur für die endgültige Etablierung in internationalen Museen und Galerien durch die Initiativen von Gabriele Schor mit der Sammlung feministischer Avantgarde (im Energiekonzern Verbund) ab 2010 und die Kür zur Vertreterin auf der Biennale 2019 durch Felicitas Thun-Hohenstein gelten kann.

Ausstellungsansicht "Renate Bertlmann. Fragile Obsessionen", Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien © Bildrecht, Wien 2023

Belvedere 21

Quartier Belvedere, Arsenalstraße 1, 1030 Wien
Österreich

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