Gallery Diary - Galerie Meyer Kainer | Annette Kelm

Die Galerie Meyer Kainer zeigt die Ausstellung  "Die Bücher“ von Annette Kelm bis 31. Juli 2021.


Fotografie spielt eine herausragende Rolle als Repräsentantin und Konservatorin von Vergangenem. Sie kann dokumentarisch Realität einfangen, Wirklichkeiten inszenieren, übernimmt in jedem Fall aber abbildende Funktion. Damit steht sie in einem engen Verhältnis zu dem, was sie zeigt: Form und Inhalt überlagern sich unmittelbar. Die Theorie des Indexikalischen, der zufolge sich fotografische Bilder ontologisch aus dem Prozess ihrer technischen Produktion herleiten, hat sich zwar mit dem Aufkommen digitaler Bildwelten in ihrer Argumentation abgeschwächt. Die indexikalische Prägung meint die Fixierung eines Moments in der Zeit in einem materiellen Objekt, das historische Information und singuläres Narrativ genuin miteinander verbindet. Auch wenn diesem Realitätseffekt heute mit einer deutlichen Skepsis zu begegnen ist, produziert die Fotografie jedoch noch immer die intensive Gegenwart eines Bildes der Vergangenheit im Jetzt, die aus ihrer repräsentativen Funktion resultiert. Die entscheidende Frage ist nun, wie sie sich zur Vorstellung eines Realen noch verhält. Welchen Status hat das Bild als Spur einer Vergangenheit, die vor allem als visuelle in die Gegenwart gerettet werden kann?

Annette Kelms künstlerische Praxis mit ihrem Fokus auf das Serielle und die scheinbar objektive Annäherung an mehrfach codierte Gegenstandswelten wird oft als eine konzeptuelle bezeichnet, weil sie das Medium Fotografie reflektiert und sich dessen klassische Genres aneignet, um deren Konventionen in einer abstrahierten, zeitgenössischen Adaption bewusst unvollständig zu erfüllen. Fotografische Formen der Repräsentation werden in Bezug auf ihre semantische Aufladung des Gezeigten ausgelotet, zugleich nisten sich aber auch subtile Bedeutungsambivalenzen in die Darstellung ein. Das fotografische Bild präsentiert sich als reduzierte und zugleich formalisierte Komposition, in der Sehen und Lesen im Sinne einer Zuweisung von Bedeutung ineinander fallen. Das Gezeigte erscheint dadurch vertraut und distanziert zugleich. Kelms Serie „Die Bücher“ differiert von den bisherigen Werken allerdings insofern, als dass sie in einem ungleich größeren Maß die Frage nach dem Gegenstand und seinem Bild reflektiert. Das liegt vor allem daran, dass die fotografierten Bücher Artefakte sind, in deren grafischer Gestaltung sich Kulturgeschichte anschaulich spiegelt, die aber in eine viel größere Geschichtsschreibung eingebunden sind.

Courtesy of Galerie Meyer Kainer

Am 10. Mai 1933 verbrannten nationalsozialistische Studenten rund 30.000 Bücher auf dem Opernplatz in Berlin. Auf Initiative der Deutschen Studentenschaft folgten zahlreiche Bücherverbrennungen in anderen deutschen Städten, auch wurden „Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums” erstellt, auf deren Basis „undeutsches” Gedankengut aus den Bibliotheken und Buchläden entfernt wurde. Diese Listen umfassen die Namen vieler bekannter Autor*- innen, aber auch solche, die seitdem aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden sind. Bei den verfemten Büchern handelte es sich um politische Literatur, um wissenschaftliche Bücher, Romane und Gedichte, sogenannte Trivialliteratur, selbst Kinderbücher wurden verbrannt. Sie wurden gebrandmarkt, weil sie einen progressiven Zeitgeist spiegelten, weil sie „linkes” Gedankengut verbreiteten, weil sie für Emanzipation der Frau standen, für andere Rollenvorstelllungen, Geschlechterverständnisse, für Homosexualität oder Internationalismus – oder weil sie von jüdischen Autor*innen verfasst wurden. Die Verbrennung und anschließende Verbannung dieser Bücher aus der Sichtbarkeit markierte die Gleichschaltung der öffentlichen Meinung und der Universitäten und ging einher mit der konsequenten Verfolgung jüdischer Schriftsteller*innen und Intellektueller. Auch Andersdenkende wurden verfolgt.

Annette Kelms Fotografien zeigen jeweils die zeitgenössische Ausgabe einer Publikation, die bei den Bücherverbrennungen medien- und öffentlichkeitswirksam in Flammen aufging oder auf einer der Listen verfemter Publikationen stand. Das Buch wird in diesen Bildern zum planen Objekt, das Cover rückt ins Zentrum. Gleichmäßig ausgeleuchtet und frontal auf weißer Fläche platziert, verleiht ihm allein ein weicher Schlagschatten Plastizität. Es sind Aufnahmen, wie man sie aus der Reprofotografie kennt – sachliche Wiedergaben von Gegenständen, bei denen sich die Kamera jeder interpretierenden Perspektivierung zu enthalten scheint. Diese Betonung des Faktischen vermeidet eine symbolische Aufladung, stattdessen tritt die kulturelle und ideologische Bedeutung der Publikationen in den Vordergrund. Die Ausrichtung an formalen Kriterien und der Verzicht auf alles Erzählerische betont auch die Übersetzung des Gegenstandes in den zweidimensionalen Raum der Fotografie: Das Buch wird Bild. Medium und Materialität gehen dabei jedoch eine komplexe Allianz ein. Schließlich ist das Buch, wie die Fotografie, ein Reproduktionsmedium.

Courtesy of Galerie Meyer Kainer

Es manifestiert sich materiell, kann aber prinzipiell gegen eine andere Kopie ausgetauscht werden. Die Bücher, die Annette Kelm zeigt, sind allerdings mehr als nur Repräsentanten ihres jeweiligen Inhalts. Die von ihr fotografierten Exemplare stammen tatsächlich aus der damaligen Zeit. Das macht sie zu affektiv besetzten Kommunikationsträgern, Überlebenden des Autodafés von 1933 und Stellvertretern ihrer Autor*innen, von denen viele ins Exil gegangen sind, verfolgt oder ermordet wurden. Es macht sie in ihrer fotografischen Repräsentation aber auch zu Relikten einer Vergangenheit, die sich einem unmittelbaren Zugriff widersetzen. Wir können in diesen Büchern nicht blättern, sie nicht lesen, sondern nur als Bild betrachten. Das lässt sie, die so unmittelbar wirken, in ihrer fotografischen Präsenz zur Abstraktion werden, die ganz grundsätzlich danach fragt, wie und zu welchen Bedingungen Erinnerungskultur noch funktionieren kann, wenn diejenigen, die von der Vergangenheit als Zeitzeug*innen berichten könnten, immer weniger werden.

Der Widerstreit zwischen greifbarer Oberfläche und dem Immateriellen, das sich in einem Gegenstand auf psychologischer und affektiver Ebene manifestiert, kennzeichnet materielle Dinge aus der Vergangenheit, die studiert, gesammelt und ausgestellt werden, um dieser Vergangenheit Anschaulichkeit zu verleihen. In Annette Kelms Verlagerung des Objekts in das Bild des Objekts wird dieser Widerstreit exponiert, gerade weil die Fotografie das Greifbare des Buches suspendiert.

Kelms Bücher muten haptisch an mit ihren teilweise sichtbaren Spuren des Gebrauchs und den kleinen Rissen im Schutzumschlag, verbleiben jedoch auf der Ebene reiner Visualität. Angesichts des dominanten Schwarz-Weiß, das die filmischen und fotografischen Dokumentationen aus der Zeit des Nationalsozialismus dominiert, fällt die Farbigkeit der Cover prägnant ins Auge und verleiht den Fotografien einen Vitalismus, das heißt die Suggestion eines unabhängigen Eigenlebens. Isabelle Graw hat den Begriff des Vitalismus kürzlich wieder für die Malerei produktiv gemacht. Ein vitalistische Arbeit suggeriert, dass sie „lebt“ oder zu uns spricht, dass sie über den Prozess ihrer Genese und den in ihr konservierten physischen Akt des Malens unmittelbar mit der Lebenswirklichkeit ihrer Produzent*innen angereichert wäre. Auch wenn bei Kelm die Apparatur zwischen Künstlerin und Werk steht, wirken ihre fotografisch repräsentierten Bücher wie verlebendigt und „beseelt“ – von Raum und Zeit befreit. Das überwindet die historische Distanz und lässt sie aus der Geschichte heraustreten. Der Vorstellung eines auratisch aufgeladenen materiellen Relikts, das im Hier und Jetzt zu uns spricht, widersetzen sie sich jedoch in ihrer Beschränkung auf die Oberfläche, in der sich Information und Evokation immer wieder überlagern.

Courtesy of Galerie Meyer Kainer

Annette Kelms Interesse gilt dem liberalen, aufklärerischen und großstädtisch geprägten Zeitgeist, aus dem heraus die Bücher entstanden, und damit auch ihrer Umschlaggestaltung, in der sich die Avantgarde der 1920er und 1930er in ihren ausdifferenzierten Ästhetiken spiegelt. Künstlerisch gestaltete Schutzumschläge kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf und gelangten im Zuge der Buchkunstbewegung zu großer Bedeutung. Jene der 1920er und 1930er-Jahre griffen die Formensprache des Expressionismus, des Konstruktivismus, des Bauhaus und Dada auf, arbeiteten mit Fotomontagen und experimentierten mit innovativer Typografie. Von John Heartfield, dem wahrscheinlich prominentester Umschlaggestalter der damaligen Zeit, stammen viele der verfemten, von Kelm fotografierten Bücher aus dem Malik-Verlag. Es finden sich aber auch viele andere Künstler*innen, die das Objekt Buch gestaltet haben: Käthe Kollwitz (Dr. M. Créde, Volk in Not!), Martha Wagner-Schidrowitz (Eva Leidmann, „Auch meine Mutter freute sich nicht! Fehltritte eines bayrischen Mädchens”), Ilna Ewers-Wunderwald (Hanns Heinz Evers, „Alraune”), Georg Salter (Henri Guilbeaux, „Wladimir Iljitsch Lenin. Ein treues Bild seines Wesens”, Alfred Döblin, „Berlin Alexanderplatz”) oder Franz Masereel ( Eca de Queiroz, „Das Verbrechen des Paters Amaro”). Avantgardistische, die zeitgenössische Ästhetik spiegelnde Cover sind jedoch nur das eine. Andere Buchcover prägt eine naturalistische Optik, auch lässt sich manchmal vermuten, dass mit einer konventionelleren Bildsprache ein breiteres Publikum angesprochen werden sollte. Das von John Heartfield gestaltete Cover von Alexandra Kollontais unter dem Titel „Wege der Liebe” veröffentlichter Kurzgeschichten steht zum Beispiel in deutlichem Kontrast zu anderen Veröffentlichungen aus dem „linken” Spektrum, deren Umschläge bewusst im Stil der russischen Avantgarde gehalten sind. Dass über den jeweiligen Inhalt der Bücher hinaus auch ihre Gestaltung als Ästhetik der Moderne durch das nationalsozialistische Regime ausgelöscht werden sollte, steht nicht nur bei diesen Beispielen außer Frage.

Als Serie fotografischer „Porträts” steht jedes Buch für sich, gewinnt aber durch den Vergleich mit anderen, wenn die gestalterische Vielfalt in den Blick rückt, die expressive Typografie oder einfach nur ein interessant klingender Titel zu entdecken ist. In der Vielfalt spiegelt sich aber auch das Spek-trum dessen, was unter dem Begriff „undeutsch” denunziert wurde. Kanonische Werke und Klassi-ker der Literaturgeschichte treffen auf Romane, die heute vermutlich als Trivialliteratur klassifiziert würden, politische Schriften auf Bücher zur Sexualaufklärung und zur Emanzipation der Frau. Kelm präsentiert diese Bücher ohne Systematik in unhierarchischer Reihung. Die Frage, warum gerade sie auf schwarzen Listen standen, bleibt unbeantwortet, lenkt den Fokus jedoch auf die einzelnen Titel, die jeder für sich eben gerade nicht repräsentativ für eine vergangenen Ära sind, sondern Individuen in Buchform.

Courtesy of Galerie Meyer Kainer

Es gibt kein Archiv der verfemten Bücher, das hier fotografiert wurde. Kelm hat mit verschiedenen privaten und öffentlichen Sammlungen gearbeitet. Es geht auch nicht um Vollständigkeit. „Die Bücher“ zeigt vielmehr einen Ausschnitt eines potenziell unabschließbaren Konzepts, in dem sich auch die schiere Dimension der „Säuberung“ durch die Nationalsozialisten und ihrer Anhänger*innen zeigt. In Annette Kelms „Die Bücher” gibt es auch deshalb keinen Unterschied zwischen einem gewöhnlich anmutenden und einem expressiven, gar evokativen Buch. Alle sind gleichermaßen zur Betrachtung gestellt und damit der Vergangenheit entrissen. Das historische Relikt rettet sich als visuelles in die Gegenwart, weigert sich aber, das letztlich Unbegreifbare greifbar zu machen oder Teil einer Erinnerungskultur zu werden, die auf historisch-dokumentarische Bilder rekurriert und nochmals die Selbstinszenierung der Täter und brennende Bücherstapel zeigt. Kelm liefert eine Alternative zu diesen bekannten Bilddokumenten, die in die Vergangenheit führen – und stellt die Autor*innen und Opfer der nationalsozialistischen Politik in den Mittelpunkt, indem sie ihnen ihre teilweise bis heute verlorene Sichtbarkeit zurückgibt. Ihre Bücher zu lesen, macht sie lebendig.

Galerie Meyer Kainer

Eschenbachgasse 9, 1010 Wien
Österreich

Das könnte Sie auch interessieren