Leben als begehbare Ruine

Anselm Kiefer im südfranzösischen Barjac

Anselm Kiefer macht La Ribaute, sein Anwesen im südfranzösischen Barjac, dem Publikum zugänglich. Unser Frankreich-Autor J. Emil Sennewald war vor Ort, um die 40 Hektar Fläche, 60 werkgerecht errichteten Gebäude und ein verzweigtes Tunnelsystem zu erkunden.


Im siebeneinhalbten Stockwerk liegt verborgen der Eingang zu einem Tunnel. Drinnen ist es glitschig, man rutscht, sieht plötzlich – die Welt durch die Augen eines anderen. Ungefähr so, wie es Spike Jonze 1999 für seine Filmkomödie „Being John Malkovich“ erdachte, fühlt sich La Ribaute in Südfrankreich an. Das seit 1993 kontinuierlich bearbeitete Ateliergelände führt gleichsam ins Innere des Künstlers: Being Anselm Kiefer. Die 40 Hektar große Raum-Skulptur ist untertunnelt, in vielen Gebäuden führen Abgänge in ein Netz aus unterirdischen Gängen und Kunsträumen, darunter zwei hallengroße Krypten. Oberirdisch ragen gestapelte Beton-Häuser meterhoch als „Himmelspaläste“ empor. Zeugen intensiver Beschäftigung mit der Kabbala, für Kiefer „eine ständige paradoxe Bewegung in die Tiefe und gleichzeitig in die Höhe“.

Die Matrix dieses Rundum-Werks einer der Spitzenpositionen im internationalen Kunst-Ranking: Geschichte, Untergang, Neubeginn. Unten, hinter einer aufgebrochenen Wand, stehen die mit Wasser gefüllten Bleibetten der „Frauen der Revolution“ (1987). An der Stirnwand findet sich eine der Fotografien, mit denen Kiefer ab 1969 einen Skandal auslöste: der Künstler in der Offiziersuniform des Vaters, den Arm zum Hitlergruß erhoben. Mit der Werkgruppe der „Besetzungen“ betrat der Künstler offensiv das Feld nationalsozialistischer Symbolik, zeigte mit dem Finger auf Deutschlands Nazi-Kontinuitäten. Joseph Beuys oder Michael Werner unterstützten ihn, andere sahen einen Neofaschisten. Hier und jetzt wirkt diese Rückenansicht wie ein Fenster im Keller der Kunstgeschichte, lässt an Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ denken, an das Erhabene – und dessen Ruinen.

Kiefers Ästhetik des Desasters, des für das Schöne notwendig einbrechenden Unsterns, pendelt zwischen Sehnsucht und Verzweiflung.

LA RIBAUTE | Die Himmelspaläste, 2003–2018 | Foto: Charles Duprat / © Anselm Kiefer

„Die Kunst geht knapp nicht unter“ wird er 2010/11 seine Vorlesungsreihe am Collège de France nennen. In La Ribaute steht in einem der Glashäuser der bleierne Düsenjet „Mohn und Gedächtnis“, entfaltet historische Fliehkraft, die sogar den südfranzösischen Wind aus den rauchenden Trümmern der Geschichte zu blasen scheint. La Ribaute, das ist eine Freiluft-Skulptur, mit Baggern als Bildhauer-Werkzeug. Ein Widerstandsort auch, nach Kiefers Verlassen Deutschlands, dem Bruch der ersten Ehe, den Anfeindungen – ein bisschen wie „Little Sparta“, der Garten des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay. Nur größer. 1992 begonnen, zeugt alles vom obsessiv werkenden Künstler. Weiter lesen Sie in unserer PARNASS Herbstausgabe.

LA RIBAUTE | Amphitheater, 1999–2002 | Fotos: Charles Duprat / © Anselm Kiefer

LA RIBAUTE | Les Femmes de l’Antiquité, Ensemble von 17 Skulpturen, 1999–2002 | Foto: Charles Duprat / © Anselm Kiefer

LA RIBAUTE | Samson (crypt), 2003–2005

La Ribaute ist jeweils von Mitte Mai bis Ende Oktober für Besuch zugänglich. Führungen sind für dieses Jahr ausgebucht. Reservierung auf der Website der Eschaton-Stiftung.

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