Leopold Museum

Kubin auf der Couch

Traum und Wirklichkeit, Bewusstes und Unbewusstes, Es, Ich und Über-Ich – im Werk Alfred Kubins scheinen sich die „Bekenntnisse einer gequälten Seele“ wie ein offenes Buch dem Betrachter darzubieten. Das Wiener Leopold Museum unterzieht den großen Zeichner dem Versuch einer Psychoanalyse.


Alfred Kubins von Fantasien, Schreckensvisionen und Obsessionen aller Art geprägtes Werk schreit geradezu nach psychologischer Analyse. Das hat Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museums, dazu bewogen, den Psychiater und Psychoanalytiker August Ruhs um seine Expertise zu bitten und Kubin quasi „auf die Couch“ zu legen.

Alfred Kubins geheimnisvoll-fantastisches, düsteres, bedrückendes, unheimliches, pessimistisches, dystopisches (und man könnte noch viele Adjektive anfügen) Werk schöpft aus den Erfahrungen seiner von traumatischen Erlebnissen geprägten Biografie, seinen intensiven Empfindungen und seiner überbordenden Einbildungskraft. Anregungen bezog er aber auch aus der Begegnung mit anderen künstlerischen Positionen seit seiner Studienzeit in München. „Deshalb war es mir wichtig“, betont Hans-Peter Wipplinger, „Kubins Vorbilder und seine Verbindungen zu anderen Künstlern des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne in diese Ausstellung zu involvieren und direkte Dialoge herzustellen. Das sind im Wesentlichen James Ensor, Odilon Redon, Max Klinger, Franz von Stuck, Arnold Böcklin, Jan Toorop und Fernand Khnopff.“ In späteren Jahren bediente sich der Zeichner, Illustrator und Autor auch der Literatur als Inspirationsquelle.

Der psychiatrische Befund von August Ruhs: „Er war sicher eine sehr feinsinnige bis übererregbare Persönlichkeit mit relativ schwachen Ich-Strukturen, die immer wieder zusammenbrachen.“ Die enge Beziehung zur tuberkulosekranken, früh verstorbenen Mutter – dagegen der als Eindringling empfundene Vater. Aus dieser Verweigerung der Vaterfigur resultierte die Auflehnung gegen jeglichen äußeren Zwang. „Die Hassgefühle gegenüber Autoritäten kompensierte er als Schüler im Foltern kleiner Tiere, später in sublimierter Weise in seiner Kunst, dem elegantesten und gesellschaftlich akzeptierten Weg der Selbsttherapie.“

ALFRED KUBIN, Das Grausen, um 1902 © Leopold Museum, Wien | Foto: Leopold Museum, Wien © Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Er war sicher eine sehr feinsinnige bis übererregbare Persönlichkeit mit relativ schwachen Ich-Strukturen, die immer wieder zusammenbrachen.

August Ruhs

Diese – stark verkürzte – Zusammenfassung der psychischen Grundstruktur Kubins ist als Folie hinter seinem zeichnerischen Schaffen ziemlich klar sichtbar. Ruhs: „Auch wenn gewisse psychopathologische Entwicklungen erkennbar sind, kann man bei Kubin nicht so weit gehen, ihn als Psychotiker und seine Kunst als zustandsgebunden zu betrachten. Er hatte eine fragile Persönlichkeit, aber im Großen und Ganzen konnte er die Grenzen zwischen seiner psychischen und der äußeren Realität sehr klar erkennen.“ Trotz der Mutter-Fixierung, vieler tragischer Verluste und früher sexueller Erlebnisse im Alter von elf Jahren mit einer reiferen schwangeren Frau führte Kubin später eine glückliche Ehe, hatte ein erfülltes Liebesleben und auch ein reges Sozialleben mit guten Freunden.

ALFRED KUBIN, Ins Unbekannte, 1900/01 © Leopold Museum, Wien | Foto: Leopold Museum, Wien © Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Hält man sich die aktuellen Frühjahrsausstellungen in den Wiener Museen vor Augen – Munch in der Albertina, Dalí und Freud im Belvedere sowie Kubin im Leopoldmuseum – drängt sich die Frage nach der Aktualität dieser psychologisch aufgeladenen, von visionären oder realen Schrecken geprägten Kunst auf: Gewalt, Seuchen, Naturkatastrophen, kriegerische Konflikte und andere Abgründe, die zu schweren psychischen Verwerfungen führen, scheinen uns heute wieder sehr nahe zu sein. Aber gab es je eine Epoche, die frei von solchen Krisen war? Vielleicht beweist diese mehr oder weniger zufällige Kumulation nur, dass wahre Kunst immer zeitgemäß ist.

Dieser Text wurde gekürzt. Den ganzen Artikel finden Sie in der PARNASS Ausgabe 01/22.

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1070 Wien
Österreich

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