Wiedereröffnung: mumok Wien

Das Konzept von Avantgarde und Moderne ist westlich geprägt. Mit der Schau „Avant-Garde and Liberation“ möchte Kurator Christian Kravagna das ändern.
Weg vom Eurozentrismus-Kanon
Die Erzählung der Avantgarde und Moderne in westlichen Museen lässt sich oft mit wenigen Adjektiven zusammenfassen: europäisch und US-amerikanisch, weiß und männlich. Das weitgehende Ausblenden von außereuropäischen und migrantischen künstlerischen Perspektiven in der Geschichtsschreibung ist einer der Arbeitsschwerpunkte von Christian Kravagna, Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator sowie Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Er forscht in den Feldern Postcolonial Studies, globale Modernismen, Migration, Repräsentationspolitik und Institutionskritik – Letztere nimmt das mumok nicht aus. Vor rund 20 Jahren hat er begonnen, Eurozentrismus in dessen Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit zu kritisieren, dann wurde er eingeladen, selbst zu Veränderungen beizutragen.

Iman Issa, Self-Portrait (Self as Doria Shafik), 2020 3D-Druck, Farbe, Metallstäbe / 3d print, paint, metal poles, 60 × 33,5 × 43,5 cm Texttafel unter Glas / Text panel under glass, 7 × 12 cm Courtesy of the artist and Rodeo, London / Piraeus; photo: Trevor Good
Das betraf die Beratung für eine Erweiterung der Sammlung und nun die Kuratierung der Ausstellung „Avant-Garde and Liberation“ mit etwa 24 weitgehend aktuellen Positionen aus Afrika, Asien und dem Raum des „Black Atlantic“: zeitgenössische Kunst, die auf die gegenwärtige Bedeutung globaler Modernismen beziehungsweise außereuropäischer Avantgarden der 1920er- bis 1970er Jahre verweist und die Frage stellt: Warum sind die Geschichten der Avantgarde aus dem frühen und mittleren 20. Jahrhundert für heutige Künstler interessant?
Anscheinend gibt es eine Notwendigkeit, sich in der Geschichte zu verorten, um aktuelle Probleme wie Rassismus, Nationalismus oder Neo-Kolonialismus aufzuzeigen.

Atul Dodiya, Volunteers at the Congress House—August 1931, 2014 Öl, Acryl mit Marmorstaub und Ölkreide auf Leinwand / Oil, acrylic with marble dust and oil-stick on canvas 183 × 183 cm Courtesy of the artist and Chemould Prescott Road © Anil Rane
Nicht nur was, sondern auch wie etwas dargestellt wird, ist eine Frage, die er beleuchten will: Strategien, Methoden und Techniken, mit denen Künstler Verbindungen herstellen, „die ihnen Empowerment für ihre aktuelle künstlerische Agenda geben“. So schließen etwa die Webarbeiten des queeren und Schwarzen Diedrick Brackens an das Erbe der afroamerikanischen Künstlerin Faith Ringgold an, die in Quilts Themen der Bürgerrechtsbewegung einwob.
Verweben ist nicht nur zeitlich, sondern auch überregional ein Aspekt der Ausstellung. Transkulturelle Beziehungen seien wenig wahrgenommen worden, so Kravagna, aber vorhanden. Ein Beispiel: Körperabdruckbilder von Robert Gabris, in denen er zentraleuropäische Diskriminierungserfahrung von queeren Rom*nja ausdrückt, jedoch Anleihen nimmt an der Black-Power-Ära und an den Body Prints von David Hammons. „Außereuropäische Bewegungen wurden tendenziell isoliert betrachtet, obwohl es regen Austausch gab“, wie Kravagna betont.

Diedrick Brackens, infernal garden, 2022 Gewebtes Garn aus Baumwolle und Acryl / woven cotton and acrylic yarn 104 x 99 cm Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York, and Various Small Fires, Los Angeles
Andersherum: Bewegungen über einen Kamm zu scheren, würde universalistischen „Weltkunst“-Charakter erzeugen; eine Problematik, die Kravagna in Interviews kritisierte. Dass die Ausstellung nun dennoch von DER globalen Moderne statt einzelnen Modernismen ausgeht, verlangt nach einer Diskussion.
Meine Sichtweise, es ist im Grunde eine Moderne, in der aber zu unterschiedlichen Bedingungen und mit unterschiedlichen Erzählungen gewebt wird.
Aktuell wanderte die Aufmerksamkeit der Kunstszene zur Biennale in Venedig, wo der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa in der Hauptausstellung Positionen zeigt, die im Westen weitgehend unbekannt sind. Ein Statement, wie es „Avant-Garde and Liberation“ auch sein soll. „Aber nicht, indem alles, was divers ist, zusammengefasst wird, sondern Fragen nach künstlerischen Strategien und der Bedeutung der Geschichte heute gestellt werden sollen“, auch nach einer befreiungspolitischen Perspektive.
Eine grundsätzliche Frage ist Kravagnas eigene Position, ist er doch selbst Teil des europäischen Kunstbetriebs. Dass keine Co-Kuratierung mit einem nicht westlichen Kurator erfolgte, habe sich aus der langen Vorlaufzeit ergeben. Kravagna forciert daher nun den Austausch mit diversen Communits über ein Vermittlungsprogramm, etwa für die afrikanische Diaspora, mit der Intention, „die Narrationen der modernen Kunst zu pluralisieren und dadurch zu politisieren.“ Andererseits ziele die Ausstellung darauf ab, die akademische Auseinandersetzung mit nicht-eurozentristischen Fragen der Avantgarde weiter anzustoßen, sowie lokale und transnationale Perspektiven zu verbinden. Kravagna erhofft sich damit auch einen langfristigen Impuls für das Museum selbst. Manche der Werke werden in die Sammlung übernommen, wenige sind bereits Teil davon.

Omar Ba, Clin d‘oeil à Cheikh Anta Diop – Un continent à la recherche de son histoire, 2017 Öl, Bleistift, Acryl, Tinte, Gouache auf Wellpappe / Oil, pencil, acrylic, ink, gouache on corrugated cardboard Courtesy of the artist and Templon, New York - Paris - Brussels
mumok
Museumsplatz 1, 1070 Wien
Österreich
Avant-Garde and Liberation
Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne
bis 22. September 2024