Dogenpalast, Venedig

VITTORE CARPACCIO

In Venedig werden zum ersten Mal seit der Retrospektive von 1963 über 40 Gemälde und 28 Zeichnungen des Renaissance-Malers Vittore Carpaccio versammelt; die Ausstellung wurde als Kooperation von Fondazione Musei Civici di Venezia und National Gallery of Art in Washington realisiert. Die Ausstellung, die auf Entdeckungen, neue Zuschreibungen sowie außerordentlich aufschlussreiche Restaurierungen zurückgeht und bietet eine aktualisierte historisch-kritische Neuinterpretation von Carpaccios Malerei.


Kaum ein Künstler an der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert gilt als so rätselhaft in seinen Bildfindungen wie Vittore Carpaccio. Selbst die Daten seiner Biografie sind nicht mit Exaktheit zu bestimmen: geboren um 1465, gestorben 1525 oder 1526, dazwischen ein Leben und Werk, welche nun von einem Spezialistenteam, angeführt von Peter Humfrey, neu untersucht und vorgestellt werden.

Am Beginn der Ausstellung stehen zwei Madonnenbilder, die den Einfluss der in Venedig hochgeschätzten Künstlerfamilie Bellini auf den jungen Carpaccio zeigen. Ebenso prägend war auch die Kenntnis der Werke weitere, zeitweise in Venedig tätige Meister wie Antonella da Messina oder Albrecht Dürer. Und dennoch wird bereits in den frühen Werken deutlich, dass Carpaccio ein Künstler ganz eigener Charakteristik und Erfindungskraft war. Sein Augenmerk galt neben den eben erst „modern“ gewordenen Halb- und Dreiviertelfiguren des venezianischen Madonnentyps den zahlreichen Details aus der Natur und der häuslichen Umgebung. Unendlich scheint seine Aufmerksamkeit für Kleidung, Dekor, Schmuck zu sein, wie auch für die feinst wiedergegebenen Blattstrukturen der Bäume im Hintergrund, für die Blumen, die Tiere aber auch für die differenzierten Partien von Gebäuden, Architekturen und Plätzen, sodass ein stimmungsvolles Bild seiner Stadt Venedig, ihrer ländlichen Umgebung und ihrer Bewohner entsteht. Carpaccio ist der „Master Storyteller of Renaissance Venice“ (so der Titel der Schau in Washington), er ist ein poetischer Geschichtenerzähler und nicht ein kühler Chronist.

Seine Einblicke in Leben, Alltag und Gefüge der Stadt sind zunächst Nebenschauplätze seiner oft bildparallel angeordneten Szenen – und dies ist ganz Carpaccio: Szenen und Geschichten sind eher sein Metier, als Andachtsbilder oder Porträts. Schon der erste seiner vier großen Bildzyklen, der „Zyklus der Heiligen Ursula“ den Carpaccio 1496-98, für die Scuola di Sant’ Orsola schuf und der sich heute in der Accademia in Venedig befindet, zeigt den großen Duktus der theatralisch angelegten Erzählung Wenngleich der neunteilige Zyklus dem  in der Accademia ein ganzer Raum gewidmet ist, nicht in der Ausstellung im Dogenpalast zu sehen ist, so ist dieses frühe Werk Carpaccios doch beispielgebend für die weiteren drei Bilderzyklen, die der Künstler schuf. (Scuola Dalmata dei Santi Giorgio e Trifone, 1501–1512, der sich heute noch komplett in situ befindet, Scuola di Santa Maria degli Albanesi 1502–1507, dessen Tafeln zerstreut waren und nun in der Ausstellung vereint wurden, Scuola di Santo Stefano 1511, einzelne Bilder sind Teil der Ausstellung.). Ein Abstecher in die Accademia lohnt daher. Doch bietet die Ausstellung die unwiederbringliche Gelegenheit, den seit dem 19. Jahrhundert zerrissenen Bilderzyklus den Carpaccio in den Jahren 1502 bis 1507 für Santa Maria degli Albanesi schuf nun in in toto zu sehen.

VITTORE CARPACCIO, La Vergine Maria che legge | The Virgin Mary reading 1510 circa olio su tela trasferito da tavola | oil on canvas transferred from panel Washington, National Gallery of Art, Samuel H. Kress Collection, 1939.1.354

Carpaccio ist der Könner des großen Bogens, der ausgebreiteten Erzählung und dabei der Meister des Details und der leicht zu übersehenden Kleinigkeiten. Die Handlung entwickelt sich wie in einem Cinemascope-Film als großer dramatisch inszenierter Erzählstrang, Nebenhandlungen werden ebenso pointiert geschildert wie die titelgebende Szene, Protagonisten genauso detailgetreu gezeichnet wie seitlich positionierte Randfiguren oder eine im Hintergrund ablaufende Parallelhandlung. Ebenso spezifisch entwickelt er für das Geschehen urbane oder ländliche Ansichten. Man kann in der Zusammenschau verschiedener Handlungen und im oft surreal anmutenden Blick auf skurrile Details, eine letzte Anmutung der Gotik sehen – Carpaccio als Mittler zwischen der unwirklichen Spiritualität des Mittelalters und der „prontezza“ eines neuen, realitätsliebenden Zeitalters?

Wenn das alles in einem Werk zu überprüfen wäre, so in der sensationellen Wiedervereinigung zweier Bild-Teile: der (fälschlich so bezeichneten) „Kurtisanen“ aus dem Museo Correr und der „Jagd in der Lagune“ aus dem Getty-Museum:  in einem ehemals als integres Ganzes konzipierten Bild treffen zwei Blickpunkte aufeinander, zwei Größenmaßstäbe, zwei Sichtachsen, zwei unterschiedliche Proportionen. Und doch ist alles eine Erzählung. Diese Erzählung über Venedig, über sein Leben, die Gesellschaft, den Glauben und die Geschichten seines Alltags kann man in der Ausstellung nachvollziehen und abseits des Dogenpalastes an zahlreichen Orten, an denen sich Carpaccios Werke in Venedig bis heute finden lassen, neben dem Ursula-Zyklus in der Gallerie dell‘ Accademia, die Gemälde in der Scuola Dalamata dei San Giorgio e Trifone im Stadtteil Castello und in der Kirche San Vitale (venezianisch San Vidal) in San Marco, für die Carpaccio das Altarbild mit einer Szene des Heiligen Vitale schuf.

VITTORE CARPACCIO, Caccia in laguna (recto); Lettere appese ad un pannello (verso) | Fishing and fowling on the Lagoon (recto); Letter Rack (verso) 1492 / 1494 circa olio su tavola | oil on panel Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, 79.PB.72


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