Plastic World
Vinyl, Schaumstoff, Nylon, Epoxidharz, Styropor, Acrylglas... So vielfältig wie das Angebot an Kunststoffen sind die Möglichkeiten, die das Material bietet. Das zeigt sich seit seinem Aufkommen auch in der bildenden Kunst. Dass das Leben in Plastik dann doch nicht ganz so fantastisch ist, wie anfangs gedacht, allerdings auch. In Frankfurt wirft die Schirn einen Blick auf die facettenreiche Geschichte des Werkstoffs.
Seit dem Durchbruch von Kunststoff in den 1950er-Jahren hat sich sowohl in der Entwicklung und Verwendung als auch beim Image des Materials innerhalb weniger Jahrzehnte einiges getan und verändert. Vormals faszinierender und geschätzter Alleskönner wird die Omnipräsenz von Plastik heute inzwischen hauptsächlich kritisch gesehen. Plastik ist vom Wunder zum Problem geworden, das Dank seiner ursprünglich positiv wahrgenommenen Eigenschaften wie Langlebigkeit auch weiterhin allgegenwärtig sein wird. Faszination übt das Material jedoch damals wie heute aus, wie auch dessen Verwendung in der Kunst eindrücklich demonstriert. Schon zu Beginn des Plastik-Aufschwungs und dessen rasanter Ausbreitung in der Herstellung von Konsumgütern aller Art machten sich auch zahlreiche Kunstschaffende die physikalischen Eigenschaften und inhärenten Ideale des Materials für ihre Werke zu eigen und spielten mit glänzenden Oberflächen, Transparenz und Schattenwurf, leuchtenden Farben, Elastizität und Robustheit, variabler Textur und federleichter Anmut.
Die Materialgeschichte von Plastik – zum einen die stetige Weiterentwicklung, aber auch das wachsende Bewusstsein ob seiner weniger rühmlichen Rolle als maßgeblicher Faktor der Umweltverschmutzung – schlägt sich auch in der künstlerischen Verwendung des Materials nieder. In Frankfurt widmet die Schirn der „Plastic World“ aktuell eine große Gruppenausstellung mit über 50 Positionen. In unterschiedlichen Kapiteln werden verschiedene Aspekte und Tendenzen von Plastik in der Kunst der letzten 60 Jahre gezeigt. Zwischen den Zeilen lässt sich die Genese und Rezeption des Materials mitlesen.
Als Otto Piene 1976 sein begehbares Environment „Anemones: An Air Aquarium“ aus riesigen luftgefüllten Kunststoff-Objekten schuf, war die Idee primär eine poetische und spielerische. Man bewegt sich zwischen Seeanemonen, Krustentieren und Fischen aus rotem und transparentem Vinyl (eigentlich mehr Riff als nur Anemonen), während einige der Ausstülpungen und Tentakel sich unter leisem Knistern behäbig aufstellen und wieder zusammensacken. Trotz vollkommener Trockenheit strahlt die Arbeit ein wenig die Anziehungskraft und das langsame, schwebende (Körper)Gefühl einer Unterwasserwelt aus. Aus heutiger Sicht erscheint sie allerdings geradezu paradox. Die Objekte werden nicht im Originalzustand gezeigt, sondern wurden neu produziert, da das ursprüngliche Material schon zu marode und nicht mehr funktionstüchtig ist. Zugleich ist die Verschmutzung der Meere durch Plastik eines der großen Probleme, die der Stoff unter anderem aufgrund seiner Unzersetzbarkeit mit sich bringt.
Eine ähnlich ironische Situation zeigt sich in den beiden Werken von Piero Gilardi, die nahezu naturgetreu eine Strandsituation und einen Quadratmeter dschungelartiger Vegetation in bemaltem Polyurethan-Schaumstoff nachbilden. Der Arte-Povera-Künstler und Umweltaktivist wollte mit diesem Zusammenspiel aus Künstlichkeit und Natur nicht zuletzt umweltpolitische Probleme in den Fokus rücken. Heute sind die Werke selbst so fragil, das Material so spröde geworden, dass man sie aus konservatorischen – und informativen – Gründen lieber in der Holztransportkiste belässt.
Plastik ist also nicht für die Ewigkeit, aber doch „gekommen, um zu bleiben“, wie es die Kuratorin Martina Weinhart zum Auftakt der Ausstellung formuliert. Es zerbröselt zwar, bleibt aber für immer, oder jedenfalls eine gefühlte Unendlichkeit, auf dem Planeten und verteilt sich dort gründlich (inzwischen konnte Plastik im Marianengraben oder auch im menschlichen Blut nachgewiesen werden).
Oder könnte es da doch einen Lichtblick in Form eines zersetzenden Organismus geben? Dem geht Tue Greenfort in einer Arbeit aus Ozean-Plastik und Epoxid nach: sie thematisiert eine im Amazonas Regenwald gemachte Entdeckung zu einem Pilz, der in der Lage ist, Plastik zu verstoffwechseln.
Auf einer ähnlichen Idee basiert die Installation von Pınar Yoldaş, die als Teil der „Plastic World“ im naturhistorischen Senckenberg Museum zwischen den Wal- und Mammutskeletten zu sehen ist. Seit 2014 arbeitet die Künstlerin an dem Projekt „An Ecosystem of Excess“, das sich mit spekulativen Lebewesen und deren Anpassungsmechanismen in einer plastikverseuchten posthumanen Welt beschäftigt. Ausgehend vom Great Pacific Garbage Patch, dem gigantischen Müllstrudel im Nordpazifik, kreiert Yoldaş ein Ökosystem, das auf den exzessiven Lebensstil der Menschheit folgen könnte. Wie eine geheimnisvolle Insel inmitten naturhistorischer Exponate wirkt die Präsentation der erdachten Organe in Präparatsgefäßen und das unnatürlich glänzende Skelett eines Meeressäugers, dessen Kiefer und Zähne auf einen plastifizierten Lebensraum ausgerichtet sind. Sie passt perfekt in diesen Kontext und wirkt doch wie aus einem fremden Kosmos – ein gelungener Kunstgriff, diese beiden musealen Welten und ihr Publikum einander näher zu bringen.
Die Vielfalt der ästhetischen und technischen Möglichkeiten laden damals wie heute zahlreiche Künstlerinnen und Künstler zum Experimentieren ein. Geschäumte, gegossene oder gefaltete Werke aus unterschiedlichsten Kunststoffen entstanden schon in den 60er-Jahren, wie Exponate von César oder Eva Hesse veranschaulichen. Ebenso waren innovative Technologien und der Aufbruchsgeist des Space Age Inspiration für architektonische Utopien und Entwürfe wie etwa Hans Holleins aufblasbarer Büroraum aus transparentem Kunststoff. Er entwickelte die Idee des transportablen Hauses auf eine zu Koffergröße komprimierbare Arbeitsraumhülle weiter (in „konventioneller Form“ kam bereits der Wohnwagen der „heutigen Lebensweise durch die gesteigerte Mobilität“ nach, wie Hollein in einer ORF-Doku erklärt).
Die Verhüllung selbst spielt bekanntermaßen bei Christo eine entscheidende Rolle, von dem eine frühe Arbeit zu sehen ist. Hier wird die Aufmerksamkeit über den Inhalt auf die Verpackung gelenkt, und damit auch auf die Wegwerfgesellschaft. Dieser Aspekt ist Kern vieler Positionen bis in die zeitgenössische Kunst, wie es sich etwa in Elias Simes Materialcollagen aus Elektroschrott und anderem Zivilisationsabfall, der im globalen Süden landet, manifestiert.
Insbesondere in den letzten Jahren finden die Kunststoff gepflasterten Spuren des Anthropozäns in Form von recycelten Fundstücken, aber auch in Arbeiten an der Schnittstelle zu Naturwissenschaft und Forschung Eingang in die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Material, das kaum mehr vom Thema Plastik zu trennen ist.
Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich ein merklicher Imagewandel vollzogen. Parallel dazu bleibt die Faszination für das Material in der Kunst bestehen. Weiterhin bieten visuelle und technische Bandbreite, und nicht zuletzt die thematische Aktualität Anreize, mit dem Material zu arbeiten, während inhaltlich neue Blickwinkel eingenommen und Fragen aufgeworfen werden. „Plastic World“ wirkt wie eine kritisch-reflektierte Hommage an die ewige Ambivalenz des Kunststoffs zwischen Strapazierfähigkeit und Fragilität, verführerischer Ästhetik, der Bereicherung, aber auch Belastung, die Plastik mit sich bringt – und an die Kunst, die all dies erfahrbar macht.
Schirn Kunsthalle
Römerberg, 60311 Frankfurt am Main
Deutschland