Meisterwerke #10

Nach 300 Jahren vervollständigt: Rembrandts „Nachtwache“

Eine Ikone muss nicht immer Taschenformat haben. In einem überdimensionalen Schnappschuss hat Rembrandt die ausrückende „Nachtwache“ eingefangen. Stellvertretend für die Wehrhaftigkeit des siegreichen Amsterdams schreitet die Bürgerwehr aus dem Torbogen, ein Ganzes, zusammengesetzt aus einer Vielzahl komplexer Einzelteile. Ein Bündnis starker Individuen, begleitet von Trommeln und Fahne.


Selbstbewusster Bildaufbau

Die selbstbewusste Gruppe rund um Hauptmann Frans Banninck Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburgh scheint sich vielmehr für eine Parade denn auf einen Kampf herausgeputzt zu haben. Überhaupt: Rembrandts Neuinterpretation des traditionellen niederländischen Gruppenbildes scheint den neuen Zeitgeist geradezu hinauszuposaunen: Alles Festgefahrene hat – auch in der Gesellschaft – fortan ausgedient, die politische Welt ist in Bewegung geraten, das Bürgertum hat seinen Auftritt.

Auf die Wiedergabe eines realen Geschehens wird in der „Nachtwache“ daher bewusst verzichtet, nur einige der gestaffelten Figuren weisen noch Porträtähnlichkeit auf, die anderen verdichten sich zum Kollektiv (angeblich lugt Rembrandt selbst im Hintergrund hervor). Brave Bürger, die geschlossen auftreten, brauchen eben keinen royalen Anführer mehr.

Die Nachtwache

1642

Rembrandt van Rijn
1606 bis 1669, Leiden/Amsterdam

Epoche: Barock

Technik: Öl auf Leinwand

Format: ursprünglich etwa 393 x 507; 1715 Beschnitt auf 363 × 437 cm

Heute: Rijksmuseum Amsterdam

Fun Fact: Angeblich versteckt sich auch ein Selbstbild Rembrandts unter den Figuren

Auch interessant: Rembrandt erhielt etwa 1.600 Gulden für die Nachtwache. 1669 starb er in ärmlichen Verhältnissen, und für zahlungsunfähig erklärt

The Night Watch, or Militia Company of District II under the Command of Captain Frans Banninck Cocq, Rembrandt van Rijn, 1642, on loan from the Municipality of Amsterdam

Was nicht passt wurde passend gemacht: der Beschnitt der „Nachtwache“

Sicher mit ein Grund warum das Bild 1715 ins Amsterdamer Rathaus übersiedelte. Doch manchmal können selbst Symbole zu groß sein: Platzgründe zwangen die Ratsherren das Gemälde an den Rändern zu beschneiden. Erst seit kurzem ist Rembrandts „Nachtwache“ wieder als rekontruiertes Ganzes zu Bestaunen. Weitere Ehrenwürden erhielt das Bild der Schützengilde dann mit der Unabhänigkeit Belgiens 1830. Nach Rubens musste nun ein neuer Nationalmaler gefunden werden – Rembrandt und die „Nachtwache“ standen bei Fuß und füllten das Kulturgut–Vakuum. Als das Gemälde schließlich 1885 in das neu erbaute Rijksmuseum übersiedelte, stimmten die 24 Träger die Nationalhymne der Niederlande an. Nur einmal – während des Zweiten Weltkrieges – hat die „Nachtwache“ das Land verlassen.

Photo: Rijksmuseum/Reinier Gerritsen

Wir sind Amsterdam

Die nationale Bedeutung des Gemäldes scheint auch mit ein Grund, warum die „Nachtwache“ bereits dreimal zum Ziel von Angriffen wurde: 1911 versuchte ein wahnsinniger Schiffskoch die Bürgerwehr mit einem Messer zu erstechen, 1975 zog ein Lehrer auf göttlicher Mission gegen die Musketen und Speere zu Felde und 1990 wählte ein Arbeitsloser sogar Schwefelsäure als Waffe. Jedoch: Die „Nachtwache“ (und ihr Heer an Restauratoren) konnten jede Schlacht für sich gewinnen. Wie ein hoher Würdenträger des Parlaments steht der einstige Bürgerschutz heute aber selbst unter ständiger Bewachung, bereits 1934 installierte das Rijksmuseum für Notfälle zudem eine Falltür mit Fluchtrutsche für das Gemälde.

Mittlerweile hat die „Nachtwache“ auch die Museumsräumlichkeiten verlassen, die Figuren sind aus dem Gemälde herausgetreten und bewachen als dreidimensionale Bronze–Statuen am Rembrandtplein die Statue ihres Schöpfers. Ein Schulterschluss zwischen Rembrandts Werk und den Niederländern. Denn: Wir sind die „Nachtwache“. Wir sind Amsterdam. Wir sind Rembrandt.

Literatur:

Volker Ritters: Die „Nachtwache“ von Rembrandt van Rijn 1642: Gedeutet nach der verborgenen Geometrie. E–Book 2014

Michael Bockemühl: Rembrandt: 1606–1669; das Rätsel der Erscheinung. Köln 1991

Christian Tümpel: „Beobachtungen zur „Nachtwache““. In: von Otto Simon/Jan Kelch (Hg.): Neue Beiträge zur Rembrandt–Forschung. Berlin 1973

Das könnte Sie auch interessieren