Gefangen in der Erinnerung. Ein Porträt von Hanne Weskott

Louise Bourgeois

Louise Bourgeois N.Y.C., 1998 © Mathias Johansson

Louise Bourgeois war eine Ausnahmekünstlerin. Ihre Karriere war beispiellos. Ihr internationaler Ruhm setzte erst in ihrem achten Lebensjahrzehnt ein. Einer ihrer wichtigsten Werkkomplexe, die „Zellen“, begann sie in den späten 1980er-Jahren zu entwickeln, wobei sie den Begriff erst ab 1991 verwendete. Das war das Jahr ihres 80. Geburtstags, und die außerordentlich zierliche, kleine Person überraschte den Kunstmarkt mit den überdimensionalen „Zellen“, die Titel tragen wie „In and Out“, „The Last Climb“, „Black Days“ oder „Peaux de lapins, chiffons ferrailles à vendre“.


In ihrem persönlichen Kommentar zur Größe der „Zellen“ bezog sie diese wie ihre gesamte Kunst auf ihre Kindheit. In ihrem Elternhaus waren die Räume groß, weil dort riesige alte Wandteppiche restauriert wurden: „Meine Raumvorstellung maß sich in Metern, nicht in Zentimetern“.

Meine Raumvorstellung maß sich in Metern, nicht in Zentimetern

Louise Bourgeois

Louise Bourgeois, geboren 1911 in Paris, wuchs in Antony zwischen Sceaux und Choisy-le-Roi vor den Toren von Paris auf. Schon früh half sie bei der Teppichrestaurierung, das heißt sie zeichnete oft die fehlenden verrotteten Partien der Teppiche nach, so dass man sie wieder weben konnte. Das stärkte ihr Selbstbewusstsein, weil sie das „Gefühl hatte, nützlich zu sein“. Diese Kindheit, von der sie immer wieder erzählt hat, verlief allerdings nicht konfliktfrei, weil sie erleben musste, dass die von ihr sehr geliebte Mutter von ihrem Vater im eigenen Haus betrogen wurde. Er hatte ein Verhältnis mit Louises Englischlehrerin. Es stand also über Jahre hinweg eine Lüge im Raum, die aber nicht angesprochen wurde. Für Louise entwickelte sich das zum Trauma, von dem sie sich in ihrer Kunst befreien wollte. Deshalb sagt sie, dass am Anfang eines Werks von ihr keine Idee steht, sondern ein „Bedürfnis, reine Notwendigkeit“, was äußerst drastisch in „The Destruction of the Father“ 1974 zum Ausdruck kommt.

1974 lebte sie schon über 35 Jahre in New York, wohin sie nach der Heirat mit dem Kunsthistoriker Robert Goldwater (1907–1973) gegangen war. Sie hatte ihn in Paris kennengelernt, wo sie sich nach einem abgebrochenen Mathematik-Studium der Kunst und der Kunstgeschichte zugewandt hatte. Erst hatte sie Malerei studiert und später auch Bildhauerei. In New York entstanden in den 1940er-Jahren neben Bildern und Zeichnungen erste Skulpturen, hohe schmale Stelen, die an abstrahierte menschliche Figuren erinnern. Ihre Titel lauten „Breasted Woman“,  “Persistent Antagonism“ und „Sleeping Figure“. Mit diesen Skulpturen hat sich Louise Bourgeois ihre Familie, die sie ja verlassen hatte, neu erschaffen. Kein Wunder, dass sie sie behalten wollte. Sie stellte zwar immer wieder aus, verkaufte jedoch nur selten.

Sie stellte zwar immer wieder aus, verkaufte jedoch nur selten.

Aber „Sleeping Figure“ von 1950 wurde immerhin vom Museum of Modern Art in New York erworben. Bis 1980 hatte sie kein eigenes Atelier, sondern arbeitete im Keller ihres Wohnhauses. Das Material für ihre Skulpturen fand sie auf der Straße. Besonders angetan hatte es ihr das Holz der Wasserkessel von den Hausdächern, die immer wieder ersetzt werden mussten und mit der Zeit ganz verschwanden. Aus ihnen fertigte sie bis in die 1960er-Jahre ihre Stelen, die immer neue Gestalt annehmen konnten, aus ein, zwei Stücken zusammengesetzt sind oder aus vielen Einzelteilen bestehen. Sie stehen ruhig und in sich gekehrt da oder wirbeln um sich selbst kreisend herum.

Louise Bourgeois N.Y.C., 1998 © Mathias Johansson

Louise Bourgeois N.Y.C., 1998 © Mathias Johansson

In den 1960er-Jahren kamen dann andere Materialien hinzu: Gips, Bronze, Latex und schließlich Marmor. Damit veränderte sich ihre Formensprache. Sie wurde körperlicher, vollplastisch und anspielungsreicher. Jetzt kommt die Spirale, die für Louise Bourgeois die kongeniale Linie darstellt, weil bei ihr Ende und Anfang austauschbar sind, immer häufiger vor. Es gab sie schon tänzerisch beschwingt aus bemaltem Holz in der Stele „Spiral Woman“ (1951/52). Im „Labyrinthine Tower“ wirkt sie eher schwerfällig und kann in dem bronzenen Nest „Lair“ (1968) ganz in sich zusammengesunken sein, um dann 1986 in einem großen schwarzen Gummitropfen mit einer kleinen rechteckigen Öffnung wieder aufzutauchen. So vielfältig in stilistischer Hinsicht die Skulpturen von Louise Bourgeois sind, so leicht lässt sich ihre Kunst durch die sich wiederholenden Formen erkennen. Sie hatte ein festes Formenvokabular, das sie immer und überall einsetzte.


Die Zellen

Besonders auffällig wird das in ihren Installationen und dann ab den späten 1980er-Jahren in den „Zellen“, die sie ab 1991 so benennt und durchzählt. 1980 fand sie ein Atelier, eine ehemalige Näherei, in Brooklyn, und hatte zum erstenmal wirklich Platz für große Arbeiten. Da erfand sie die „Zellen“, diese inneren Räume, die psychische oder physische Zustände in dreidimensionale Bilder übersetzen. Sie sind rein assoziativ aufgebaut und spekulieren in keiner Weise mit der Gunst des Publikums. Die war Louise Bourgeois immer völlig egal, was aber die Menschen nicht davon abgehalten hat, sich für ihr Werk zu begeistern. Mit den „Zellen“ erlangte sie Weltruhm. Insgesamt gibt es 60 Zellen und einige Vorläufer.

Die Hälfte davon sind derzeit im Münchner Haus der Kunst ausgestellt, was sensationell ist. Denn normalerweise sah man bisher eine oder einige, aber nie 30 auf einmal. So gab es auf der Biennale in Venedig die Zelle „Choisy“ von 1993, auf der Documenta 1992 „Precious Liquids“, in der Turbinenhalle der Tate Modern 2000 riesige Spinnenfiguren und zur Eröffnung des großen neuen Galerieraumes von Hauser & Wirth in Londons Savile Row die große Spinne „Maman“, die praktisch den gesamten riesigen Ausstellungsraum einnahm und derzeit für die Ausstellung „Louise Bourgeois: I Have Been to Hell and Back“ vor dem Moderna Museet in Stockholm wirbt.

So vielfältig in stilistischer Hinsicht die Skulpturen von Louise Bourgeois sind, so leicht lässt sich ihre Kunst durch die sich wiederholenden Formen erkennen.

Die Spinne, die normalerweise ambivalent gedeutet wird, ist bei Bourgeois meist positiv zu sehen, was schon der Titel „Maman“ oder „Lear“ (Nest) ausdrückt. Sie fühlt sich wie im Spinnenetz gefangen, das heißt bei ihr gut aufgehoben, aufgefangen, nicht allein gelassen. Aber es gibt da durchaus auch zweideutige Bilder mit Spinne wie in „Lady in Waiting“ (Kammerfrau), wo auf einem großbürgerlich altmodischen Lehnstuhl mit großgemusterten Bezug eine aus dem selben Stoff gefertigte Puppe sitzt, die von Spinnenarmen gehalten wird, die wiederum mit Garnspulen an den Fensterkreuzen verbunden sind. Unklar bleibt dabei, ob die Spinne die Kammerzofe bedroht oder sie hält.

Louise Bourgeois starb am 31. Mai 2010. Bis zuletzt hat sie in ihrem schmalen Stadthaus in Chelsea, New York gelebt. Dort hatte sie einen kleinen Arbeitsraum, in dem sie nachts zeichnete, ein Wohnzimmer, das sich im Lauf der Jahre wie das gesamte Haus in einen „schöpferischen Brutkasten“ verwandelte, wie das ihr langjähriger Assistent Jerry Gorovoy, der schon zu Lebzeiten ihre Ausstellungen aufgebaut hat und das heute noch macht, nennt. Hier empfing sie einmal die Woche auch Gäste, junge Künstler, Kritiker und sonstige Interessierte. Die Räume sind bis heute unverändert, geradeso als spielte sie wieder die Gastgeberin, die sich redlich bemühte, freundlich zu sein, aber in Wirklichkeit nie ganz aus der Reserve zu locken war.

Louise Bourgeois N.Y.C., 1998 © Mathias Johansson

Louise Bourgeois N.Y.C., 1998 © Mathias Johansson

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