Gemäldegalerie: ALTE SÄLE, NEUE BLICKE
Die multimedial bestückten Räume der seit 9. Oktober eröffneten Ausstellung „Hungry For Time“ des Raqs Media Collective in der frisch an den Schillerplatz rückübersiedelten Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste führen von den Spuren musealen Umgangs mit Werken hin zur Frage, inwiefern der Faktor Zeit in der Kunst eine Rolle spielt.
Der Titel der Ausstellung “Hungry For Time” mag bewusst gedanklich anregend sein. Denn was ist hierbei mit Zeit gemeint, und nimmt nicht jede*r Zeit anders wahr? Die Anspielung auf Zeit wird bei der einen oder bei dem anderen möglicherweise die Venediger Biennale 2019 mit dem Titelthema „May You Live In Interesting Times“ in Erinnerung rufen. Zu dem damals wohl eindeutigen Verweis auf das Gegenwärtige, stellt sich bei der Ausstellung der Gemäldegalerie hingegen die Frage, welche Zeit hier wohl tatsächlich gemeint ist.
Was beim Betreten der Räume zunächst wie eine Auseinandersetzung im Umgang mit der Materialität von Kunstgegenständen und deren Konservierung wirkt, entwickelt sich fortlaufend zu einer gesellschaftskritischen Auseinandersetzung des in New Delhi ansässigen Künstlerkollektivs Raqs Media Collective, das hierbei die kuratorische Arbeit übernommen hat. Die Schau ist zu einer Hälfte mit Werken aus dem Altbestand der historischen Sammlung des Hauses bestückt: Historienmalereien, Stillleben, Zeichnungen, Stiche und Schriften bis hin zu Albrecht Dürers eigener Locke – historisch aufgeladene Gegenstände also, die in einen Dialog mit zeitgenössischen Arbeiten treten.
Ein skeptisches Bildersehen wird durch nachdenkliche Aphorismen und Zitate fluoreszierend in der Raummitte verstärkt, die das Geschehen und Gesehene im Raum kommentieren und auf eine weitere kritisch-moralische Ebene heben. Es stellt sich hierbei die immanente Frage, was die Zeit mit unserer Wahrnehmung macht, wenn wir als Betrachtende, Vergangenes im Museum ästhetisch erfahren.
Die Werke, die bereits in einem bestimmten zeitlichen Kontext entstanden sind, werfen im Kontrast zu den zeitgenössischen Arbeiten die Frage auf, ob Kunst nur unter Berücksichtigung bestimmter, damals herrschender gesellschaftspolitischer Umstände, oder unter der strengen Auflage, heutigen globalisierten, kolonialbewussten Denkens betrachtet werden kann. Bewusst, fast schon plakativ werden altbekannte Künstler deren Namen Egon Schiele, Melchior d’Hondecoeter, oder - wie bereits erwähnt – Albrecht Dürer lauten, internationalen Künstler*innen wie Lavanya Mani, dem Künstlerinnenduo SPLICE, oder Ayesha Singh gegenübergestellt. Das Aufeinandertreffen von Heute und Damals, das sich in der Ausstellung in verschiedensten Topoi wie Natur, Krieg und Gewalt, Kolonialismus, der Rolle von Frauen in der Gesellschaft und letztendlich auch den noch immer herrschenden westlichen Schönheitsidealen niederschlägt, evoziert eine solche gedankliche Auseinandersetzung, oder regt zumindest hierzu an. Mit gelben Überklebungen der Werkbeschilderungen wird die Benennung von Werken kommentiert und hinterfragt und hierdurch ein zusätzliches, anregendes Momentum hinzugefügt.
Die Ausstellung schafft es, durch die Gegenüberstellung von zentraleuropäischen auf der einen und dezentralen, durch Kolonisation ins Hintertreffen geratene Sichtweisen auf der anderen Seite, ohne Begleittext, auf subtile Weise einen roten Faden zu führen und Besucher*innen zum Denken anzuregen.
Am Ende bleibt es offen, was mit diesem „Hunger nach Zeit“ tatsächlich gemeint ist und ob dieses Motto, neben dem Verlangen nach Vergangenheitsaufarbeitung, nicht auch als ein hoffnungsvoll gerichteter Wunsch an die Zukunft zu verstehen ist, die Zeit, die durch die einseitig-imperialistische Repression verlorengegangen ist, aufzuholen. Grob gesagt, könnte man die Schau auch als einen Appell für gesamtgesellschaftliche Gleichstellung deuten – eine Idee, die zwar nicht neu ist, deren Kernaussage jedoch nicht oft genug wiederholt werden kann.
Die Rückkehr in die Gemäldegalerie nach dreijähriger Auslagerung ins Theatermuseum und dem damit verbundenen Bestreben, sich mit dem Thema Dekolonialismus an Seite internationaler Positionen auseinanderzusetzen, bietet einen neuen Blick auf das sanierte Haus und lenkt die Erwartungen an dessen Zukunft in eine vielversprechende Richtung.
Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien
Schillerplatz 3, 1. Stock, 1010 Wien
Österreich
Kunstkritik ist dann gut, wenn sie sich ihren eigenen Raum sichert, eine Geltung beanspruchen kann und ohne sekundäre Begründung auskommt. (Stefan Lüddemann). Im besten Fall gibt die Kunstkritik der Kunst selbst einen neuen Raum. Fakt ist jedoch, dass sie nicht unabhängig von einem medialen Umfeld situiert werden kann und eine Praxis des Schauens, Beurteilens und Schreibens erfordert. In diesem Sinne geben wir auf unserer Website im Format "Junge Kunstkritik" jungen Autoren und Autorinnen die Möglichkeit ihre Kritiken zu veröffentlichen.