Cyborgs in der Gegenwartskunst

Eine posthumane Welt

Der Cyborg ist zu einer Gesellschaftsmetapher geworden, die die Beziehung zwischen Technologie, Körper und Identität beschreibt. Über Post-Gender-Kunst und warum sich eine erneute Lektüre von Donna Haraways Technofeminismus-Manifest lohnt.


Donna Haraways 1985 in der Socialist Review erschienener und seitdem viel zitierter Essay „Ein Manifest für Cyborgs“ ist heute aktueller denn je. Körper werden zunehmend abhängiger von Technologien, die der täglichen Organisation des Lebens dienen, aber auch eingesetzt werden, um zu kontrollieren und zu manipulieren. Der oder die Cyborg – zusammengesetzt aus „cybernetic“ und „organism“ – steht für Hybride aus Maschine und Organismus, die sowohl in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als auch in Science-Fiction-Universen existieren können. Damit lässt sich über die Figur des Cyborgs hinterfragen, wie Technologie das Leben und die Gesellschaft formt. Die Venedig-Biennale 2022 widmete dem Cyborg prominent eine ihrer fünf Time Capsules, das Museum Brandhorst in München präsentierte zuletzt die umfangreiche Gruppenausstellung „Future Bodies from a Recent Past“, die sich auf die Verbindung von Technologie, Körpern und Skulptur seit 1950 konzentrierte, und im Museum Frieder Burda in Baden-Baden kuratierte Udo Kittelmann die Ausstellung „Transformers“. Welche Bedeutung hat die Präsenz des Cyborgs in der Gegenwartskunst?

Venedig-Biennale 2022

Mit dem Titel „Seduction of the Cyborg“ setzte die Hauptkuratorin der letztjährigen Venedig-Biennale Cecilia Alemani einen bewussten thematischen Schwerpunkt, der als historische Verankerung mit überwiegend Avantgarde-Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts diente und offenlegte, wie sehr gerade weibliche Positionen immer wieder Möglichkeiten der Erweiterung ihres Körpers ausloteten.

In Venedig und aktuell mit der großen Retrospektive im Kunstforum Austria in Wien zu sehen, zählen Kiki Kogelniks Werke zu den frühesten Beispielen in der österreichischen Kunst der 1960er-Jahre, in der die Hybridisierung des weiblichen Körpers mit Maschinenelementen ebenso wie die technische Vermessung und Fragmentierung desselben in Erscheinung tritt. Nach ihrem Umzug nach New York schuf Kogelnik beeinflusst von der amerikanischen Pop-Art eine Reihe progressiver Mischtechnik-Malereien. Ihre schwebenden anonymen Körpersilhouetten mit Zahnrädern in den Bauchhöhlen setzen körperliche und maschinenbetriebene Prozesse gleich oder ähneln Röntgenbildern.

Welche Bedeutung hat die Präsenz des Cyborgs in der Gegenwartskunst?

Besonders zeitgenössische Bildhauerinnen erkunden die Verschränkung von Technologie und weiblichem Körper als „Topographie der Macht und Identität“. Die schwedische Künstlerin Anna Uddenberg inszeniert meist gesichtslose weibliche Modelle auf Sitzobjekten in akrobatischen und sexualisierten Posen mit Selfie-Stick, wodurch sie sowohl in überspitzter Form den männlichen Blick entlarvt als auch auf die mediale Inszenierung von vermeintlichen Weiblichkeitsidealen anspielt, und damit genderspezifische Aspekte in Frage gestellt.

In der Ausstellung „Transformers“ im Museum Frieder Burda in Baden-Baden, die sich künstlichen Wesen im Dialog mit Gemälde-Klassikern aus der Sammlung widmet, werden von der 1987 in Bonn geborenen Louisa Clement drei lebensechte KI-Roboter präsentiert, unter anderem neben einer tanzenden, animatronischen Skulptur von Jordan Wolfson und einer sprechenden Maus von Ryan Gander. Clements „Repräsentantinnen“ (2021) entstehen in Zusammenarbeit mit einem chinesischen Hersteller, der auf die Produktion von Sexpuppen spezialisiert ist.

Die mexikanische Bildhauerin Berenice Olmedo beschäftigt sich in ihren skulpturalen Objekten mit technologischen Verbesserungen des menschlichen Körpers. In ihrer bislang größten Einzelausstellung 2022 im Kunstmuseum Basel zeigte Olmedo eine neue Werkgruppe aus transparenten und motorisierten Kunststoff-Skulpturen. Diese basieren auf jeweils paarweise zusammengesetzten Abdrücken von Körperteilen nach Amputationen. Im unteren Bereich der Skulpturen bewegen sich, initiiert durch kleine Roboterarmsysteme, Silikonhüllen, die eingesetzt werden, um eine Schutzbarriere zwischen Stumpf und Prothese zu schaffen. Olmedo thematisiert die politische Dimension von Behinderung und Krankheit, des versehrten Körpers in einer nach männlichen Standards ausgerichteten Leistungsgesellschaft sowie die Verbindung organischer Fragmente und Medizintechnik.

BERENICE OLMEDO | Installationsansicht »Hic et Nunc«, Kunsthalle Basel, 2022 | Foto: Philipp Hänger / Kunsthalle Basel

Grenzauflösungen

Einer der wichtigsten Aspekte für heutige Gesellschaftsdebatten, die sich in der zeitgenössischen Kunst widerspiegeln, ist, dass „Cyborgs Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt“ sind. Die Auflösung binärer Strukturen ist zuletzt auch deshalb notwendig, weil sich darin Herrschaftslogiken offenbaren und damit verbunden die systematische Unterdrückung von Frauen und marginalisierten Gruppen zum Ausdruck kommt. Aus diesem Grund besteht aktuell auch ein großes Interesse, die hier genannten weiblichen künstlerischen Strategien unter dem Schlagwort des Technofeminismus zu verorten.

Die Auflösung physischer Grenzen und körperlicher Zuschreibungen mittels neuer Technologien ist auch in den Soundarbeiten der 1994 geborenen österreichischen Künstlerin Ernst Lima eines der zentralen Anliegen. Die Künstlerin arbeitet an der Schnittstelle von digitalen und analogen Prozessen und erforscht körperliche Reaktionen durch Musik und Sound als technologische Selbsterweiterungen. Ihre ortsspezifische Arbeit „Temporal Tension“ (2022) war im letzten Herbst im öffentlichen Raum in Wien zu hören. Darin überlagern sich ihre Stimme und Geräusche ihres Körpers mit technischen Klängen, während sie ein Gedicht flüstert. Wie sich Ernst Limas Darstellungen von fluiden, sich auflösenden Körpern eindeutigen Zuschreibungen verweigern, so entziehen sich auch generell flüsternde Stimmen der Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung durch Spracherkennungstechnologien. Ernst Lima führt so die Erkundung der Stimme als körperliches Fragment in der gleichzeitigen Verbindung und Verweigerung von Technologie vor.

Mit der voranschreitenden Entwicklung des Metaverse wird als Nächstes das Wesen des Avatars genauer zu bestimmen sein. Eine Differenzierung lässt sich aber jetzt schon machen: Cyborgs sind wir im Grunde alle bereits, denn jeder einzelne menschliche Organismus ist Teil von Wissenschafts- und Technologieverhältnissen, die auf Körper einwirken und durch sie erst wirksam werden. Der Avatar ist kein Synonym dafür, sondern lediglich die Repräsentation dieser Tatsache im virtuellen Raum.

Dieser Text wurde gekürzt. Mehr lesen Sie im PARNASS 01/23.

ERNST LIMA Temporal Tension, 2022 Foto: Kunstdokumentation

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