Das Jahrhundertgenie

Egon Schiele

EGON SCHIELE Selbstbildnis mit Lampionfrüchten, 1912 Öl, Deckfarbe auf Holz | 32,2 × 39,8 cm © Leopold Museum, Wien

Von den vier österreichischen Repräsentanten des Kunstbiotops „Wien um 1900“, deren Leben 1918 endete, war er der jüngste: Egon Schiele, das frühreife Genie, der Provokateur, der Borderliner zwischen Risiko und Kalkül, zwischen rücksichtsloser Selbstanalyse und wirkungsbewusster Dandyattitüde, zwischen Abgrund und Pose.


Als Egon Schiele am 31. Oktober 1918 um ein Uhr früh der Spanischen Grippe erlag, die in den letzten Kriegswochen als Epidemie in Wien wütete, war er 28 Jahre alt. Ein trotz mancher Widerstände etablierter Künstler, der vielen als bedeutendster und zukunftsweisendster Repräsentant der österreichischen Kunstszene galt. Verheiratet, werdender Vater, materiell weitgehend abgesichert, befand er sich künstlerisch am Höhepunkt des Erfolgs. Ausstellungsbeteiligungen in der Wiener Secession, in Zürich, Prag und Dresden, die Gründung der neuen Künstlergruppe „Sonderbund“ und verschiedene Überlegungen zum kulturellen Wiederaufbau Österreichs nach dem abzusehenden Kriegsende hatten das letzte Lebensjahr ausgefüllt. Drei Tage vor ihm war seine schwangere Frau gestorben. Am 3. November 1918, dem Tag des Waffenstillstands, wurde Egon Schiele am Ober St. Veiter Friedhof zu Grabe getragen.

In kaum einem großen Museum, das Schiele im Bestand hat, darf hundert Jahre danach eine Gedenkausstellung fehlen. Die Wiener Albertina machte bereits im Vorjahr den Anfang mit einer Präsentation ihrer umfangreichen Sammlung von Arbeiten auf Papier. Das Belvedere, das neben seiner bekannten Klimt-Kollektion eine hochkarätige Sammlung von Schiele-Bildern besitzt, wird im Herbst Ergebnisse der jüngsten maltechnischen Untersuchungen präsentieren und anhand des sich verändernden Schiele-Bestandes das Thema Restitution sowie Sammlungsgeschichte und -politik des Hauses untersuchen. Egon Schiele wird 2018 aber – zum Teil gemeinsam mit Gustav Klimt, Koloman Moser oder zeitgenössischen Positionen – auch an vielen anderen Orten präsentiert: in Linz sowie außerhalb Österreichs unter anderem in Moskau, London, Boston, Liverpool oder Paris.

ANTON JOSEF TRCˇ KA | Egon Schiele vor seinem unvollendeten Gemälde »Begegnung«, 1914 Fotografie auf Papier | 29 × 23,5 cm | © Leopold Privatsammlung

ANTON JOSEF TRCˇ KA | Egon Schiele vor seinem unvollendeten Gemälde »Begegnung«, 1914 Fotografie auf Papier | 29 × 23,5 cm | © Leopold Privatsammlung

SCHIELE-JUBILÄUMSSCHAU IM LEOPOLD MUSEUM

Die voraussichtlich umfassendste Ausstellung findet aber in jenem Museum statt, das sich, nimmt man die Privatsammlungen der Familie Leopold hinzu, mit über 50 Gemälden und rund 250 Arbeiten auf Papier der weltweit größten und bedeutendsten Schiele-Sammlung rühmen darf und sich mit Dokumentation, Datenbank und einer Symposion-Reihe als internationales Schiele-Kompetenzzentrum profiliert: im Wiener Leopold Museum. Dort, wo das Werk des radikalen Avantgardisten ein beständiger Publikumsmagnet ist, hat man Gemälde und Gouachen, Aquarelle und Zeichnungen, Schieles lyrisches Werk sowie zahlreiche Erinnerungsstücke, Dokumente und Archivalien einer neuen Betrachtung unterzogen, um den reichen Sammlungsbestand, ergänzt durch einige besondere Leihgaben, in einer großen Jubiläumsschau unter neuen Gesichtspunkten zu präsentieren. Genau genommen handelt es sich um drei Ausstellungen, wie Hans-Peter Wipplinger, museologischer Direktor des Museums, herausstreicht: „Dank des üppigen Sammlungsbestands des Museums und der Exponate, die aus der privaten Sammlung Leopold II noch hinzukommen, ist es uns möglich, die Medien zu verschränken. Da wir aus restauratorischen Gründen manche Werke nicht zu lange ausstellen dürfen, werden wir mehrmals umhängen und die Papierarbeiten in drei verschiedenen Tranchen präsentieren.“ Die Fülle an Werken, die damit innerhalb von acht Monaten zu sehen sein wird, ist beachtlich: „Pro Ausstellungspräsentation, also jeweils circa drei Monate, werden zwischen 45 und 50 Gemälde und 60 bis 70 Arbeiten auf Papier ausgestellt. In Summe zeigen wir zwischen 3. März und 4. November rund 200 Arbeiten auf Papier. Das ermöglicht dem Publikum, innerhalb eines Jahres nahezu den gesamten Bestand der Sammlung Leopold zu betrachten.“ Die Ausstellung lädt also zu wiederholten Besuchen ein.

Gemeinsam mit dem Sohn des Sammlers, Diethard Leopold, hat Hans-Peter Wipplinger ein Konzept erstellt, das sich von der bisherigen Präsentation in chronologischer Weise unterscheidet und die Werke thematisch anordnet, beginnend mit der Untersuchung der eigenen Identität des Künstlers – Schiele hat ja um die 170 Selbstporträts gemalt. Diese obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Körper und der eigenen Person beleuchtet sein selbstbewusstes Heraustreten aus der Tradition und dokumentiert einen Prozess der Selbstfindung als Ausdruckskünstler. Motivgruppen wie die ambivalente Figur der Mutter – mit so beklemmenden ispielen wie „Tote Mutter“ oder „Blinde Mutter“ –, die spektakulären Tabubrüche in der Darstellung junger Mädchen und Buben, des Weiteren Themen wie Spiritualität und Verwandlung, auch mit pantheistischen und okkultistischen Ansätzen, zwei Räume mit Frauendarstellungen unterschiedlichster Ausprägung, die enigmatischen Häuser, Landschaften, Blumen und Pflanzen oder die zahlreichen Porträts fokussieren den Blick auf die wichtigsten Themen in Schieles Werk. „Die ganz eigenwillige und komplexe Darstellung von Porträts im Werk Schieles widerspricht ja dem herkömmlichen Bildnischarakter, weil sie die Dekonstruktion, die Vielheit der Identitäten beinhaltet“, präzisiert Hans-Peter Wipplinger. „Ideen, die mit der modernen Philosophie und Psychologie zusammenhängen. Diese aufgesplittete, fragmentierte Identität hat Schiele nicht nur an sich selbst immer wieder quasi als Rollenspiel durchexerziert, sondern auch in anderen Porträts dargestellt.

Die thematische Anordnung integriert neben Gemälden und Arbeiten auf Papier auch Briefe, dokumentarisches Material wie Erstausgaben von Ausstellungskatalogen oder posthum erschienene Publikationen, Fotografien und natürlich auch das dichterische Werk Egon Schieles. Letzteres eröffnet weitere mögliche Zugänge zum Verständnis seines bildnerischen Schaffens. Die höchst interessante, expressionistische Lyrik blieb lange Zeit unbeachtet, heute befinden sich viele Originale von Schieles Gedichten in der Privatsammlung Leopold, die eng mit dem Museum kooperiert. Manche Briefe und Gedichte wurden vom Künstler zu grafischen Kunstwerken gestaltet. Die Themen entsprechen jenen seiner Bilder: Es sind ausdrucksstarke Visionen voll Farbigkeit und Unmittelbarkeit mit ungewöhnlichen Wortschöpfungen und eigenwilliger Grammatik in einer atmosphärisch dichten Sprache.

DER SAMMLER RUDOLF LEOPOLD

Rudolf Leopold (1922–2010) hatte Schieles Werk entdeckt, als sich noch wenige dafür interessierten. Ihn muss an diesem Künstler etwas fasziniert haben, was andere offenbar noch nicht wahrnehmen konnten. Diethard Leopolds Erinnerung setzt Anfang der 1960er-Jahre ein: „Zu diesem Zeitpunkt befanden sich erstaunlicherweise schon zwei Drittel des heutigen Museumsbestands in der Privatsammlung Leopold. Der wichtigste Teil der Schiele-Sammlung wurde in der 1950er-Jahren erworben. Ich bin 1956 geboren, das heißt, ich bin mit Schiele aufgewachsen.“

Rudolf Leopold hielt vor allem die Werke aus den Jahren 1910 bis 1914/15 für Schieles wichtigste Leistung. Gerade diese waren in den 1950er-Jahren allerdings wenig gefragt, was es dem Sammler ermöglichte, das expressive Frühwerk in dieser Dichte zusammenzustellen. „Mein Vater hat die Meinung verteten: Hier ist einer, der so gut malt und komponiert wie die alten Meister, aber mit den Themen, die uns heute angehen, also Sexualität, Einsamkeit, Tod, Beziehungsleben etc. Für ihn war es wichtig, an den Kunstwerken, die er gesammelt hat, dieses Zusammenspiel von Formalem und Inhaltlichem belegen zu können. Das kann man auch in seiner Monografie nachlesen: So richtig enthusiastisch wird er, wenn er beschreibt, wo Schiele nicht nur die Formen des Secessionismus weiterentwickelt, sondern sie eingesetzt hat, um eine psychologische oder geistige Realität sinnlich wahrnehmbar zu machen.

EGON SCHIELE | Mutter und Tochter, 1913 | Bleistift und Gouache auf Papier | 47,9 × 31,1 cm © Leopold Museum, Wien

EGON SCHIELE | Mutter und Tochter, 1913 | Bleistift und Gouache auf Papier | 47,9 × 31,1 cm © Leopold Museum, Wien

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