documenta 15: Tiefe Verletzungen und riesige Schäden

Noch nie ist in den ersten zwei Wochen einer documenta so viel passiert, wie in diesem Jahr. Ein Ausstellungsplakat wurde erst nach den Vorbesichtigungstagen für Journalisten installiert, dann als offen judenhasserisch und israelfeindlich identifiziert, danach effektvoll verhängt und dann doch komplett abgehängt. Es wurden mehrere Strafanzeigen gestellt, zum Beispiel wegen Volksverhetzung gegen die documenta-Geschäftsführerin. Der Bundespräsident kam und hielt keine der üblichen Reden zur Eröffnung, sondern kritisierte den israelfeindlichen Geist der documenta. Der Bundeskanzler kündigte an, auf keinen Fall zu kommen.


Noch nie ist so viel und gleichzeitig so wenig passiert: Die documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann übernimmt keine Verantwortung für die gezeigten Arbeiten. Auch nicht für das Nichtbeachten antisemitischer Einstellungen eingeladener Kollektive im Vorfeld und ist (bisher) nicht zurückgetreten. Das verantwortliche Kuratorenteam ruangrupa veröffentlichte tagelang keine Stellungnahme zum Abbau des zentralen Werks und dessen judenfeindlicher Aussage einer von ihnen eingeladenen Gruppe.

Als sie dann die Stellungnahme veröffentlichten, war sie nur auf Englisch zu lesen. Während die documenta15 sich bis dahin in einem Zustand des Dauerlobs befand, wie inklusiv und barrierefrei sie ist, war es bei dieser sensiblen Problematik offensichtlich nicht möglich, sofort eine Übersetzung zu liefern. Man muss daraus kein Drama machen, doch die Arroganz, mit der von ruangrupa entschieden wird, was Inklusion, Teilhabe, Gemeinschaft ist und wann die Prinzipien ausgesetzt werden, ist atemberaubend. Jede facebook-Meldung der d15 über ihre Projekte und Künstler ist übrigens zweisprachig. Und die Gruppe Taring Padi, die die furchtbaren judenfeindlichen Darstellungen auf die documenta gebracht hat, darf weiterhin fast täglich im Begleitprogramm irgendetwas anbieten. Ob der Ankündigung, eine Expertengruppe werde alle ausgestellten Arbeiten prüfen, Taten gefolgt sind, ist von der documenta nicht zu erfahren. Selbst wer die Experten sind, bleibt bisher geheim. Man gebe keine Auskunft an Medien, weil zu viele Medien anfragen, so die Antwort der Sprecherin auf PARNASS-Anfrage.

ruangrupa

ruangrupa, v.l.n.r. Ajeng Nurul Aini, farid rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Reza Afisina, 2019, Foto: Jin Panji

Dass sich die Situation nicht beruhigt, liegt auch an der schockierenden Arroganz mit der documenta-Leitung und Kuratorenteam agieren: man bittet nicht um Entschuldigung, sondern „entschuldigt sich“ selbst und bedauert sich: „Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment“, schrieben Taring Padi, die Juden als Schweine und in bester Stürmer-Manier dargestellt haben. ruangrupa nennt das Entfernen des offen antisemitischen Plakats lediglich „Ereignisse um Taring Padis Arbeit“ und beklagt, „dass viele der Vorwürfe gegen uns erhoben wurden, ohne dass zuvor der Versuch unternommen wurde, in einen offenen Austausch und in einen Prozess des voneinander Lernens einzutreten“. Ähnliches wiederholte ein Sprecher von ruangrupa bei der eilig organisierten Podiumsdiskussion am Mittwoch dieser Woche. Er sei gekommen, um „zu lernen und zuzuhören“. Wenn das auch nur im Ansatz stimmen würde, wäre es zu diesem Skandal überhaupt nicht gekommen.

documenta Halle, Kassel, 2022, Foto: Nicolas Wefers

Die Podiumsdiskussion zeigte, wie tief die Verletzungen, wie riesig die Schäden für den Kunstbetrieb durch ruangrupa sind. Denn kann der Staat noch Kultur fördern, ohne sie zu kontrollieren? Hortensia Völckers, die Direktorin der Bundeskulturstiftung sprach mehrfach vom „großen Schaden für die Kulturlandschaft in Deutschland“. Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden, brachte es klar und ohne das die Diskussion ansonsten bestimmende professorale Gerede über Postkolonialismus, Aufklärung und philosophische Denkgebäude auf den Punkt: „Wer hier in Deutschland aufschlägt, hat sich mit dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen. Wer hier lebt, aufwächst, wer sich hier kulturell eingraviert, ist auch in Haftung zu nehmen. Wir sind alle gemeinsam verantwortlich für das, was hier passiert.“ Wenn das die Grundlage des Handels in Kassel werden würde, wäre viel gewonnen.

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