documenta 14 Athen – Zwischen Körpern und Kosmos

Ibrahim Mahama, Check Point Prosfygika Syntagma Square © Mathias Voelzke

Blickwechsel: Athen – Kassel

Auf dem Syntagma-Platz im Zentrum Athens bereitet Ibrahim Mahama aus Ghana mit Jutesäcken seine Performance vor, am Kotzia-Platz verteilt der pakistanische Künstler Rasheed Araeen „Food for Thought“, vor dem Parlament demonstrieren heute die Studenten gegen weitere Einsparungen, stehender Verkehr auf den Straßen im Zentrum, ein atonales Hupkonzert erklingt, an den Bäumen hängen schwer die Orangen und verströmen ihren süßen Duft, über allem thront stoisch die Akropolis – erster Tag der Preview.

Parallel dazu steigen in Kassel Rauchzeichen aus dem Turm des Fridericianum, eine Arbeit des des deutschen Künstlers mit rumänischen Wurzeln Daniel Knorr (ist seit 1983 in Deutschland), während der neue deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und sein griechischer Amtskollege Prokopis Pavlopoulos in Athen die weltgrößte Kunstausstellung, die 14. documenta, eröffnen. Ein symbolischer Akt, der fünfzig Jahre nach dem Putsch des griechischen Militärs fern aller Krisen und Differenzen ein Zeichen setzt für ein neues Europa.

Globale Perspektiven

Die Verlagerung der documenta nach Athen sei notwendig gewesen, sagt Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der documenta 14, um eine veränderte Welt neu betrachten zu können. „Die Welt kann nicht exklusiv von einem Ort aus erklärt, kommentiert oder geschildert werden ...“, so Szymczyk in der Pressekonferenz. Die documenta, die weltgrößte Kunstausstellung, wurde von Arnold Bode 1955 „erfunden“ und war in Kassel verortet. Bereits Okwui Enwezor wie auch Carolyn Christov-Bakargiev arbeiteten mit internationalen Plattformen und Satelliten. In diesem Sommer findet die documenta an zwei Orten statt: in Athen und ab 10. Juni in Kassel. Mit Szymczyk hinterfragt erstmals ein künstlerischer Leiter die Position des zentralen Standortes Kassel und die Rolle der documenta. 2017 wird der Gastgeber selbst zum Gast. Stärker als bisher sind indigene Kulturen und Künstler miteinbezogen. Die Grenzen zur Ethnologie oder Ethnografie allerdings sind fließend und schwer zu definieren. Die documenta 14 blickt über das mediterrane Athen hinaus nach Afrika, in den Nahen Osten und nach Asien und erweitert unseren westlichen Horizont.

Von Athen lernen

Der Arbeitstitel, gleichzeitig auch das Leitmotiv der documenta 14, „Von Athen lernen“, wird hier bereits gelebt. Alle 160 Künstler haben Arbeiten sowohl für Athen wie auch für Kassel erarbeitet. Die documenta hat sich verdoppelt, bei einem nur geringfügig erhöhten Budget von jetzt 30 Millionen Euro. Annette Kulenkampff, Geschäftsführerin der documenta, betont zu Recht, dass das Großprojekt mit dem neuen Etat noch immer chronisch unterfinanziert sei.

Athen als Kulminations- und Ausgangspunkt

Adam Szymczyk präsentierte bereits in Berlin 2008, bei der 5. Berlin Biennale, keine klassische Kunstausstellung. Ihn interessieren künstlerische Positionen, die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Spannungsfelder sichtbar machen. Athen gilt nicht nur als Wiege der Demokratie und der westlichen Kunst, heute ist Athen vor allem ein Symbol für die Finanz- und Flüchtlingskrise, aber auch die Krise der EU generell. Zentrales Anliegen von Szymczyk ist es, innerhalb eines neoliberalen ökonomischen Umfelds mit kritischen Interventionen die Möglichkeiten der Kunst auszuloten. Wie kann sie Einfluss nehmen auf die Neugestaltung einer gemeinsamen Zukunft?

Invasive Erschließung der Stadt – die Stadt als Bühne

Im Vorfeld in den Athener Medien kritisch kommentiert, wird die Neu-Kartografierung der Stadt jetzt auch in Athen selbst positiv zur Kenntnis genommen. Über 40 Orte und den öffentlichen Raum bespielt die documenta in Athen, darüber hinaus kooperiert sie unter anderem auch mit Museen und Kultureinrichtungen, mit Kinos, Bibliotheken, Schulen, Fernseh- und Radiostationen. Jeden Tag definiert sie mit Performances, Konzerten, Soundinstallationen, Film-Screenings, partizipativen Aktionen und Diskussionen neu, was heute eine Großausstellung wie die documenta ausmacht: Mut und Experimentierfreude.

Die Hauptorte der documenta 14 in Athen | Ausgewählte Arbeiten:

Das Konservatorium (Odeion Athinion)
Vasileos Georgiou B’ 17–19

Eine nie fertiggestellte Ikone der griechischen Architektur-Moderne, das ist das Odeion, Teil eines über 20.000 Quadratmeter großen Kulturzentrums, das 1959 im Stil des (Beton-)Brutalismus entworfen wurde und heute Sitz des Musik-Konservatoriums ist. Im Odeion unter anderem zu sehen ist die Installation Music Room (2017) von Nevin Aladağ, für die sie Möbel von Athener Flohmärkten in Musikinstrumente verwandelte, die von Athener Musikern gespielt werden. Als Materialisation, Βιβλίο Καλλιτέχνη (2017), beschreibt der Künstler Daniel Knorr seine Installation im Innenhof. Sie besteht aus Müll, der sich als breiter Strom in den Hof ergießt. In Österreich wird Knorr von der Galerie nächst St. Stephan vertreten.

Im Patio gleich nebenan steht eine mobile Bühne der samischen Architektin Joar Nango, „European Everything“, aus Materialien indigener Völker. „Die Fähigkeit zur Improvisation“, sagt Nango, ist eine „kulturell geprägte Form baulicher/gestalterischer Traditionen, über die viele indigene Kulturen des Nordens verfügen. So ist in Athen eine Open-Air-Lounge aus Jurten sowie Seehund- und Rentierfellen entstanden, in der sich zwischen den anstrengenden Kunsttouren gut ausruhen lässt.

Im Beton-Amphitheater ist eine Klanginstallation aus vertonten Künstlerbüchern mit Chorgesang zu erleben, ein musikalischer Kommentar begleitet die aktuellen Börsenkurse, die in Echtzeit über die Wände flimmern. Die beeindruckende Arbeit „The Way Earthly Things Are Going“ (2017) ist eine Multichannel-Soundinstallation mit Echtzeit-LED-Display und stammt von dem nigerianischen Künstler Emeka Ogboh. Die Basis seiner künstlerischen Arbeit sind Klänge, mit denen er die Zusammenhänge unseres Daseins zu ergründen versucht.

Das Benaki-Museum
Vier unterschiedliche Standorte

Der klassizistische Altbau wurde nach dem Sammler Antonis Benakis benannt. Heute besteht der Komplex aus sechs verschiedenen Standorten. Die documenta bespielt davon vier, die Kerameikos Islamic Collections, die Nikos Hadjikyriakos- Ghika Gallery, das Mentis Center und den Neubau (Pireos 138), der zu den Hauptstationen der documenta 14 gehört.

Im neuen Annex besonders herauszugreifen ist vor allem die brillante, provokative Arbeit des israelischen Videokünstlers, Malers und Autors Roee Rosen zum Thema Holocaust: Live and Die as Eva Braun, 1995–97. Mit der Rauminstallation aus 66 schwarzgerahmten kleinformatigen Mixed-Media-Papierarbeiten und Bannern, die den Raum in Kabinette gliedern, widmet sich Rosen der Reflexion über Fiktion und Realität. Unter dem Motto In Love with the Evil entwirft er ein fiktives Drehbuch, eine Story, bei der weder Humor noch Erotik fehlen. In Kassel werden aktuelle Arbeiten von Rosen zu sehen sein, darunter eine neue künstlerische Interpretation des „Kaufmanns von Venedig“.

EMST – National Museum of Contemporary Art
Ecke Kallirros und Amvrosiou Frantzi

Das seit zehn Jahren leer stehende fünfstöckige Museum, eine ehemalige Brauerei, ist in Athen die größte Spielstätte der documenta. Das Haus wird derzeit wieder von Katerina Koskina geleitet und umfasst eine Sammlung internationaler Künstlerinnen und Künstler von den 1960er-Jahren bis heute. Rund ein Viertel, über 200 Arbeiten der Sammlung des EMST, werden demnächst für 100 Tage in Kassel im Fridericianum zu sehen sein.

Gleich in der Eingangshalle entlockt die Arbeit von Marta Minujin, „Zahlung der griechischen Schulden an Deutschland mit Oliven und Kunst“, vielen Besuchern ein erstes Lächeln. Die argentinische Künstlerin errichtet derzeit in Kassel aus 100.000 einst verbotenen Büchern das Parthenon der Bücher. Cecilia Vicuña, die chilenische Lyrikerin und Künstlerin, hat mit ihrer hängenden XXL-Skulptur aus ungesponnener, leuchtend roter Wolle, „Quipo Womb (Die Geschichte des roten Fadens)“, ein räumliches Gedicht komponiert. Prominent im ersten Stock ist die Installation des Tirolers Lois Weinberger. Für seine Installation „Debris Fields“ (2010–2016) ist Weinberger mit Unterstützung von Archäologen in seinem Tiroler Elternhaus auf Spurensuche gegangen. Der österreichische Genderkünstler Ashley Hans Scheirl präsentiert in Athen eine surrealistisch anmutende Malerei-Installation. Die in Salzburg als Angela Schierl geborene Künstlerin lebt heute in Wien. Von sich sagt sie: „Ich bin ein künstlerisches Experiment und versuche möglichst fließend zu bleiben.“ Kein Wunder, dass Ashley auch ein Name ist, der von beiden Geschlechtern genutzt werden kann.

Weitere wichtige Stationen:

Kunsthochschule ASFA 

in einer ehemaligen Textilfabrik, Pireos 256

Parko Eleftherias

ehemaliger Stützpunkt des Militärs, heute ein Kunstort, ehemaliges städtisches Kunstzentrum, dort finden die Public Programmes statt. Dahinter das ehemalige Folterzentrum während der Militärdiktatur, heute ein Museum der Hinterbliebenen und Angehörigen, Vassilissis Sofias

Das könnte Sie auch interessieren