Keine Kunstausstellung

Ernte in Kassel: documenta 15

© documenta fifteen 2022

Lieben oder hassen ist hier nicht die Frage: das indonesische Kollektiv Ruangrupa hat umgesetzt, was es für seine „documenta fifteen“ angekündigt hat.


Es heißt über die documenta, sie werde alle fünf Jahre neu erfunden. Wenn das stimmt, dann ist das in diesem Jahr besonders perfekt gelungen. Und besonders radikal. Keine der Erwartungen an eine Kunstausstellung, auch nicht an eine so große, offene, vielfältige wie die documenta, werden hier erfüllt. Keines der Prinzipien, nach denen bisher so große Ausstellungen organisiert wurden, ist in diesem Jahr in Kassel relevant.

Mit beeindruckender Konsequenz hat das indonesische Kollektiv Ruangrupa ausgeführt, was es angekündigt hat: „Anstatt neue Kunstwerke für die documenta fifteen in Auftrag zu geben, wollten wir die Prozesse sichtbar machen, die ihnen vorausgehen. Wir haben Künstler:innen und Kollektive gebeten, ihre Arbeit an den jeweiligen Orten fortzusetzen, die Ernte zu sichern und die Frage zu beantworten: Wie könnt ihr das, was ihr tut, nach Kassel bringen?“

Das Zitat gibt das Statement aus dem begleitenden Handbuch zur documenta wieder – einen Katalog gibt es nicht. Es kann und muss als Quintessenz der Arbeit und der diesjährigen documenta gelesen werden.

ruangrupa

ruangrupa, v.l.n.r. Ajeng Nurul Aini, farid rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Reza Afisina, 2019, Foto: Jin Panji

Ruangrupa hat einem Schneeballsystem folgend, Kuratoren eingeladen, die künstlerische Teams eingeladen haben, die wiederum künstlerische Teams eingeladen haben. So kommen mehr als 1000 direkt Beteiligte zusammen, die das, was ihnen wichtig ist und das, woran sie arbeiten, wofür sie kämpfen, in Kassel vorstellen.

Wer Kunst sehen will ist in Kassel nicht richtig.

Uta Baier

Auch bei dieser Vorstellung geht es vorsätzlich um ein Anders-Machen als bisher und als im westlichen Kunstsystem üblich. Ganz bewusst ist daher lumbung, das Bild der gemeinschaftlich genutzten Reisscheune, der zentrale Ort der documenta und nicht das Museum Fridericianum, das traditionell für die 100 Tage geräumt wird und bisher immer als zentraler Ausstellungsort genutzt und verstanden wurde. „Wir fanden, im Mittelpunkt sollte das lumbung-Gebäude stehen, wo die gesamte Ernte aufbewahrt wird, das Depot des gesamten Wissens, aller Geschichten und Erfahrungen; es sollte dynamisch sein und sich immer wieder verändern. Außerdem würde so mit der Tradition des Publikums gebrochen werden, das Fridericianum als den Hauptausstellungsort der documenta zu begreifen“, erklärt das Team und ließ in das Ausstellungshaus einen Kinderspielplatz bauen, zeigt das indonesische Projekt Gudskul – ein Raum für das „Lernen als soziale Praxis, in deren Mittelpunkt die Freundschaft steht“.

Es stellt verschiedene Archive vor wie „The Black Archives“ aus Amsterdam, das Nachwirkungen von Sklaverei und Kolonialismus in der niederländischen Gesellschaft sichtbar machen will. Oder das „Asia Art Archiv“, das die zeitgenössische Kunst in Asien dokumentiert, sowie die Protestarbeiten von Richard Bell, der den australischen Siedlerkolonialismus dokumentiert. Auf dem zentralen Friedrichsplatz steht sein „Aboriginal Tent Embassy“, das erstmals vor 50 Jahren im australischen Canberra aufgeschlagen wurde. Es ist die einzige Arbeit auf dem riesigen Platz – auch hier werden die Erwartungen der Besucher gründlich enttäuscht, war der Platz doch bisher Ort großer, spektakulärer Kunst und Statements. Erinnert sei nur an Christos „Ballon“ zur d4, Walter de Marias „Erdkilometer“ zur d8 oder Marta Minujins „Parthenon of Books“ zur d14.

Dafür haben die Besucher die Möglichkeit, viele Orte in Kassel zu erkunden, denn die documenta ist an mehr als 30 Orten in der Stadt präsent. Das macht den Besuch mühsam und sorgt natürlich für Entdeckungen, da die Besucher mit ihrer Eintrittskarte in umliegende Museen, auf ein ehemaliges, weit außerhalb liegendes Industrieareal oder in den Nordstadtpark gehen können.

documenta fifteen: The Black Archives

documenta fifteen: The Black Archives, Black Pasts & Presents: Interwoven Histories of Solidarity, 2022, Installationsansicht, Kassel, 11 Juni 2022, Foto: Frank Sperling

Von einer Ausstellung, wie sie bisher in Kassel zu sehen war, kann in diesem Jahr nicht die Rede sein.

Uta Baier

Von einer Ausstellung, einer Kunstschau, wie sie bisher in Kassel zu sehen war, kann in diesem Jahr nicht die Rede sein. Auch hier zeigt sich die Konsequenz, mit der Ruangrupa die eigenen Themen und Lösungen nach Kassel gebracht hat. Es ist eine documenta, die den globalen Süden vorstellt, sein Denken, seine Probleme, seine Art, künstlerisch zu arbeiten. Es geht um Ernährungspolitik, Kolonialismus, um Klimawandel, Ökofeminismus, prekäres Leben von Künstlern, um Bildung, kritisches Denken, Wirtschaftskrisen, queere Lebensweisen, soziale und künstlerische Projekte und deren Finanzierungen. Gezeigt werden Arbeitsweisen, Werkstätten, Organisationsformen, Dokumente und Dokumentationen.

documenta fifiteen: Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR)

documenta fifiteen: Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), INSTAR archive, List of censored Artists, 2022, Installationsansicht (Detail), Documenta Halle, Kassel, 12. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers

Denn der Prozess ist für Ruangrupa wichtiger als das Ergebnis. Die Prinzipien von Teilhabe und Teilen stehen im Vordergrund. Ruangrupa hat den eingeladenen Kollektiven Budgets aus der documenta-Finanzierung zur Verfügung gestellt, auch ein Startkapital „als Anerkennung für die jahrelange Arbeit vor Ort und als Siegel für unser Einverständnis, im Jahr 2022 Übersetzungen dieser Arbeit nach Kassel zu bringen“, so eine der Erklärungen des Kollektivs.

Keine Kunstausstellung

Jetzt beginnen ihre 100 Tage, in denen sicher auch weiter verhandelt wird, ob die Antisemitismus-Vorwürfe gegen eingeladene Kollektive berechtigt sind. Die geplanten Expertendiskussionen zum Thema im Mai wurden bekanntlich von der documenta wieder abgesagt. Bei der Pressekonferenz sprachen sich sowohl Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle als auch die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, deutlich gegen Antisemitismus und für die Freiheit der Kunst aus. Das Problem ist mit dem Beschwören von Selbstverständlichkeiten sicher nicht gelöst. Auch nicht mit der Schlusspunkt-Aussage von documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann, diese Debatte gehe an der documenta 15 und ihren Fragestellungen vorbei. Wer so argumentiert, provoziert weitere Diskussionen.

Lieben oder hassen ist bei dieser documenta trotzdem nicht die Frage. Sie ist organisiert worden, um die künstlerische Aktivitäten und Lösungen im globalen Süden vorzustellen, nicht um eine Kunstausstellung zu zeigen. Und diesen Anspruch löst die „documenta fifteen“ ein. Wer Interesse hat, das kennenzulernen, ist in Kassel richtig. Wer Kunst sehen will, nicht.

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