Eine kritische Nahaufnahme von Roland Schöny und Paula Watzl

documenta 14 im Fokus

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Während die Biennale Venedig Kuratorin heuer genau mit der gegenteiligen Botschaft angetreten ist, streicht die diesjährige documenta 14 in Kassel neuerlich die politische Dimension der Gegenwartskunst hervor. Wie schon seit den 1990er Jahren von den jeweiligen Leitungen der gerne als Weltkunstschau bezeichneten Großausstellung sehr deutlich betrieben, ruft nun auch documenta Kurator Adam Szymczyk dazu auf, tradierte und durch Eurozentrismus und Kolonialismus geprägte Blickwinkel aufzugeben.


Deshalb kommen zahlreiche künstlerische Positionen von den Peripherien außerhalb des traditionellen Kunst-Metropolen. Medial griffig aufbereitet wurde die erstmalige Verdopplung der documenta durch eine bereits im April eröffnete Ausgabe in Athen. Nicht zuletzt spielt diese Ausweitung in den krisengeschüttelten EU-Staat Griechenland auf das politisch problematische Verhältnis zwischen den wirtschaftlichen starken Staaten im Norden und dem von Flüchtlingsbewegungen extrem stark betroffenen Griechenland mit sozial äußerst prekären Verhältnissen im Inneren an. An ihrem alten Veranstaltungsort Kassel wiederum schreibt sich die documenta in zahlreiche Stadtgebiete ein, die bisher als kunst- und kulturfern galten. Es ist somit die am weitesten ausgedehnte documenta bisher. Im gemeinsamen Dialog befragen Paula Watzl und Roland Schöny das Kunstgroßunternehmen.

Wo anfangen, wo aufhören, was auslassen, was keinesfalls verpassen?

Paula Watzl: Nur nicht irritieren lassen. documenta Leiter Adam Szymczyk meint, dass die Ausstellung kein Quiz mit 100 Fragen ist, die allesamt an einem Tag beantwortet werden müssten. 100 mögliche Wege bietet sie allerdings schon. Vielleicht sollte man sich in diesem Punkt an den Kurator halten anstatt gezielt zu versuchen alles bei einem Besuch mitzunehmen. Ausnahmslos alles zu sehen, scheint nämlich nahezu unmöglich.

Roland Schöny: Spezifisch für diese documenta ist, dass Teile der Stadt Kassel einbezogen wurden, die normalerweise überhaupt nicht mit Kunst in Verbindung gebracht werden. Es wurden wesentliche Teile der Ausstellung in die sogenannte Nordstadt gebracht; ein Gebiet sozialer und urbaner Peripherie. Charakteristisch für dieses Viertel ist die enorme Dichte an Industriebetrieben und die hohe Konzentration sozialer Wohnbauten. Mit weit über 30% an nichtdeutschen Einwohnern handelt es sich um ein Stadtgebiet mit extrem hoher Migrationsrate. Zugleich befindet sich dort der Hauptstandort der Universität Kassel im Design eines Neubaus der 1980er Jahre. Wenn im Rahmen dieser documenta so häufig von Migration und von globalen Fluchtbewegungen gesprochen wird, scheint es geradezu logisch, das Kunstpublikum auch hierher zu führen.

Paula Watzl: Die sogenannte Neue Neue Galerie im Gebäude der ehemaligen Hauptpost im brutalistisch modernistischen Stil , die Gottschalk-Halle, sowie das Fridericianum als zentrale Ausstellungsbühne und die ebenfalls einem klassischen Museum gleichende Neue Galerie mit dem gegenüberliegenden Palais Bellevue sind für mich die absoluten Must-sees, vor allem die alte Hauptpost wurde zu meinem Highlight.

Auch einen Spaziergang durch die Karlsaue rund um die Kunsthochschule möchte ich anregen, selbst wenn sich die Suche nach den Kunstwerken hier teilweise als schwer lösbare Schnitzeljagd gestaltet, was aber, und dies ist positiv hervorzuheben, zum illustren Austausch mit anderen documenta Gästen einlädt.

Roland Schöny: Leider ist der offizielle documenta Guide ungenau. Wer mit Kassel nicht vertraut ist, wird bald an den oberflächlichen Karten scheitern. Außerdem lässt sich kaum ein Eindruck von der gesamten Stadtgeografie gewinnen, und wie sich diese erschließen lässt. Etwas seltsam ist es auch, unentwegt auf das Internet und die Website zu verweisen, denn die wenigsten laufen ständig mit dem Tablet herum, um sich alles selbst zusammen zu suchen.

Paula Watzl: Generell empfiehlt sich in der Besuchsplanung eine vorab Recherche und ausreichendes Kartenmaterial unabhängig der documenta Publikationen die leider oftmals mit allem artistischen Anspruch irreführend gestaltet wurden und deshalb immer bloß ergänzend zum Einsatz kommen können.

Roland Schöny: Dazu zwei einfache Tipps: Sehr viele, unterschiedliche institutionelle und temporäre Schauplätze liegen schlicht und einfach entlang der Straßenbahnlinie 1. Offiziell wird empfohlen, an einer der Außenstellen zu beginnen, zum Beispiel am ehemaligen unterirdischen Bahnhof (KulturBahnhof). Dies ist interessant, aber geisterhaft, weil es da wenig Kunst zu sehen gibt. Deshalb wäre ein Beginn von der sogenannten Neuen Neuen Galerie her sinnvoller. Dort werden einige der zentralen Themen in Form von Installationen und Videoarbeiten. angerissen.

Wie breitet diese documenta ihr Wegenetz aus?

PW: 35 Orte und über 160 Künstler hat sich die documenta 14 für Kassel vorgenommen. Die Erschließung peripherer Ausstellungsorte und Stadtgebiete soll dabei ein symbolisches Erweitern des Aktionsradius über gedankliche Grenzen und Berührungsängste hinweg darstellen. Damit will die documenta sich wohl auch dem Vorwurf entziehen, eine Kultur der Eliten zu bespielen. Ob die Einwohner immigrantenstarker Wohnviertel vom documenta Tourismus nun eingeladen oder eher amüsiert werden bleibt aber dahingestellt. Die 22 Euro Tageseintritt dürften – ortsunabhängig – wohl eine der größten Schwellen außerhalb des Fachpublikums darstellen, die zeitgenössische Kunst für sich zu erschließen.

RS: Tendenziell setzt die documenta 14 fort, was Catherine David bereits in den 1990er Jahren mit der Definition der Documenta X als Parcours einleitete: Die Erschließung des gesamten Stadtraums. Damals bezog sie erstmals Schaufenster, Fußgängerpassagen und vor allem die Gebäude des damals fast leerstehenden, ehemaligen Hauptbahnhofs ein. Wer es schafft, die Vielzahl der Locations aufzusuchen, gewinnt einen Eindruck von dem sehr unterschiedlich geprägten sozialen Raster Kassels. Ganz ohne Aufwand ist auch ein Schritt nach Athen möglich, weil ein Teil der Sammlung des EMST, des National Museum of Contemporary Art aus Athen im Friedericianum gastiert. 

Welche Themen und Fragestellungen kristallisieren sich heraus?

PW: Die Wiener Festwochen boten eine Schule des Verlernens und auch documenta Leiter Adam Symyczek ruft auf, zu verlernen was wir meinen zu wissen. Es ist die Einladung zu einem reflektierten Neubeginn als Ausgang für den gedanklichen Weg durch diese documenta. Ein unbegrenzter, vorurteilsfreier Pfad soll dazu anhalten eingeschliffene Weltbilder zu hinterfragen. Zugleich werden viele (Welt-)Bilder aufgeworfen; als Konfrontation mit Transgender Kunst etwa. Empfehlenswert zum Beispiel Lorenza Böttner (geb. als Ernst Lorenz Böttner in eine Familie deutscher Herkunft in Punta Arenas in Chile) in der Neuen Galerie. Ein weitere Schwerpunkt ist indigene Kunst, unter anderem beispielhaft inszeniert von Máret Ánne Sara. Sie wurde 1983 in Kvaløya in eine Familie von Rentierzüchtern geboren und ist Gründerin des Künstlerkollektivs Kautokeino.

RS: Mit einer minimalistisch wirkenden Installation aus Rentierschädeln verhandelt sie spirituelle, ökologische und politische Fragen. Sie weist darauf hin, wie der tradierte Umgang mit den Rentieren abgelöst wurde durch Standardisierungen per Gesetz. Sara gehört einer jungen Generation von Sámi-Künstler an, die ihre Kunst auch als Kommunikationsmittel verstehen, um für die Rechte ihrer Gemeinschaft eintreten. Im ersten Moment könnten Assoziation an die Konzepte des Minimalismus und eine arte povera des Nordens aufkommen.

PW: An vielen Stellen bringt diese documenta Kunst, die außerhalb unseres westlichen Blickfeldes liegt, wie etwa die schwer fassbaren Wimmelbilder des mongolischen Künstlers Nomin Bold. In Kassel wird so der Versuch unternommen, den Kunstdiskurs zu demokratisieren, was die Kuratoren teilweise auch ansatzweise schaffen – jedoch innerhalb gewisser Grenzen. Denn, wie Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie Berlin, bei seinem documenta Rundgang klar zu verstehen gibt, kann Kunst kaum Lösungen anbieten. "Gerade in diesen unsicheren Zeiten kann die Kunst ja nicht etwas an Antworten ersetzen, was die Menschen noch nicht fähig sind an Antworten zu geben", so Kittelmann. Das Kunstverstehen und –sehen, weg von unserem jahrhundertealten europäischen Blick, völlig neudenken, das gelingt in Kassel als Idee, aber nicht in konsequenter Umsetzung. Vielleicht geht es mehr um ein bewusstes Dazu-Lernen als um ein simples Vergessen.

RS: Zugleich lässt sich eine Reihe von Themenfeldern ausmachen: immer wieder werden Prozesse kultureller Transformation im Zuge der Globalisierung und der Politik der Kolonisation angesprochen. An mehreren Stellen deuten künstlerische Arbeiten Risse in der Gesellschaft und Zonen gewaltsamer Konfrontation an, wo sich im Zuge von Migrationsbewegungen gewalttätige Gegenströmungen formieren. In der Ausstellung des griechischen Museums EMST im Friedericianum bietet sich phasenweise ein beklemmendes Bild unter dem Paradigma der Suche nach Demokratie und Meinungsfreiheit zur Zeit der Diktatur in Griechenland. Umgekehrt setzt die Ausstellung in der Neuen Galerie einen – nur mäßig interessanten – Schwerpunkt mit Werken des 19. Jahrhunderts, welche die Hingezogenheit der Deutschen zur Antike veranschaulichen sollen. Viel zu wenig hervorgehoben wird, dass auch Sound, Neue Musik oder die Aufarbeitung verschiedener tradierter Musikformen eine Rolle spielen. Im documenta Informationszentrum auf dem Friedrichsplatz finden sich beispielsweise – von vielen fast unbemerkt – eine Reihe gemütlicher Hörstationen mit musiksoziologischen Beiträgen in High-End Qualität.

Ist die documenta 14 so politisch wie ihre Rhetorik?

PW: Die documenta ist politisch. Seit jeher. Politik ist ihr immanent. Bereits die erste documenta 1955, initiiert von Arnold Bode fußte auf dem politischen Boden der Nachkriegszeit und suchte einen Kulturausgleich für die Irritationen der NS-Zeit zu schaffen indem sie einen Fokus auf die verfemte und als "entartet" abgetane Abstrakte Malerei setzte. Das Spektakel der documenta ist ein großen politisches Ereignis in das ob ihres internationalen Ereignischarakters viel Ebenen interpretiert werden können – nicht umsonst öffnet das diesjährige Daybook mit einem Zitat des antikapitalistisch eingestellten Guy Debord, ("Die Gesellschaft des Spektakels", 1967).

Eine der Aufgaben der Kunst ist es zu hinterfragen, anzuregen und Erklärungsmodelle für komplexe Weltthemen zu liefern. Nun herrscht die medial proklamierte Zeit der Krise und so wird auch der Diskurs um die documenta in diese Krisenrhetorik eingegliedert. Ja, Adam Szymczyks documenta reißt viele große politische Themen an, politischer als seine Vorgänger und Vorgängerinnen, wie von vielen Medien deklariert, wird er dabei aber nicht, schon gar nicht in den kuratorischen Erklärungsmodellen die sich vielmehr von Überinterpretation zurücknehmen und eine unvoreingenommenes Sehen der Werke raten.

RS: Es ist oft problematisch, Kunst einfach in Themen zu unterteilen, weil es letztlich um Prozesse der Formalisierung und Fragen der Übersetzung in symbolische Ordnungssysteme geht. Selbst wenn eine Ausstellung behauptet, sie würde gesellschaftspolitische Fragestellungen aufgreifen, liegen ihre Bezugspunkte immer noch in den verschiedenen Strömungen der zeitgenössischen Kunst. Auf dieser Ebene bleibt der auf wenigen Schlagworten aufgebaute Diskurs extrem sparsam bis unsichtbar. Dennoch drängt das Konzept der documenta 14 danach, den Fokus auf deren inhaltliche Leitmotive zu richten. Bald stellt sich dann heraus, dass viele künstlerische Positionen wesentlich vielschichtiger sind, als dass sie einfach den propagierten Headlines "Krise", "Migration" und "Globalisierung" untergeordnet werden könnten.

Umgekehrt vernachlässigt diese documenta fast sträflich jene großen Themen, die sie selbst mit einem enormen Kommunikationsaufwand in den Vordergrund rücken möchte. Würde man dem Narrativ des Kolonialismus ernsthaft folgen und die Gegenwart analysieren, dann wäre etwa die Rolle Chinas in Nigeria, Kenia oder an der Elfenbeinküste zu befragen. Im Gegenzug zur unermesslichen Ausbeutung der Rohstoffe versorgt die Volksrepublik China zahlreiche Länder und Regionen mit Sportstadien; selbst dort wo kein Bedarf besteht. Trotz großspuriger Rhetorik dringen die Kunstprojekte der documenta kaum in die Nähe solcher Prozesse vor, die aktuell die gesamte Weltgeografie verändern. Die hochinteressante, politisch explosiv aufgeladene Kunst des Post-Apartheid Staats Südafrika wurde fast vollkommen vernachlässigt.

Haben wir von Athen gelernt? Und was lernt eigentlich Athen von Kassel?

PW: Als die Entscheidung für einen Doppelauftritt der documenta 14 in Kassel und Athen fiel, sprach Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, von "Krisen-Tourismus". ("It’s a gimmick by which to exploit the tragedy in Greece in order to massage the consciences of some people from Documenta. It’s like rich Americans taking a tour in a poor African country, doing a safari, going on a humanitarian tourism crusade. I find it unhelpful both artistically and politically.")

RS: Dieser pointierten Analyse kann man nur beipflichten. Selbst eine verheerende soziale Situation sollte aber keineswegs dazu führen, die kulturelle Auseinandersetzung aufzugeben. Der Kulturtourismus nach Athen kann außerdem zur Auseinandersetzung mit der tatsächlich katastrophalen Situation in Griechenland führen. Nicht ist dabei, wie lange Griechenland für Aussteiger, Alternativtouristen und Intellektuelle Reiseziel Nummer eins war. Warum also nicht hier anknüpfen?

PW: Tatsächlich stimmt die Tendenz von Kassel aus weiter zu denken. Die globalisierte Welt wird kleiner, auch das Kunstpublikum rückt einander weltweit näher und, bei der Pressekonferenz schien man sich einig, Athen ist erst der Anfang, die documenta wird in den nächsten Jahrzehnten immer globaler denken und dies auch müssen. Dass die Wahl für den zweiten Austragungsort gerade auf Athen fiel kann man kritisch oder logisch sehen. Im Sinne einer demokratischen Weltkunstausstellung die sich der Wurzeln "unserer" Kultur besinnt und gleichzeitig dieses "uns" hinterfragt scheint kaum ein Ort treffender. Durch den regen Austausch mit dem EMST – dem Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst Athen – konnte zusätzlich eine nachvollziehbare Brücke geschlagen werden die einen einfachen, aber wichtigen, Beitrag, nämlich die Ausstellung lange nicht gezeigter Kunstwerke, bewerkstelligt. Eigentlich wollen im Sinne der documenta alle von allen lernen und das geht deutlich rascher wenn man an gleich zwei Punkten ansetzt.

RS: Das zunächst skeptisch besehene Gastspiel des EMST in Kassel liefert weitaus interessantere Einblicke in die zeitgenössische Kunst Griechenlands als erwartet. Durch die mangelhafte Beschriftung der Ausstellung ist es allerdings notwendig, selbst teils umfangreich zu recherchieren bzw. auf der documenta Website nach Informationen zu suchen. Selbstverständlich beinhaltet die Sammlung auch internationale bzw. nichtgriechische Positionen wie Pedro Cabrita Reis, Allen Sekula oder Mona Hatoum. So liefert die Ausstellung des in enorme Schwierigkeiten geratenen EMST Einblicke in dessen Sammlungspolitik.

PW: Auch die Parallelsicht auf gleich mehrere künstlerische Beiträge, einmal produziert für Kassel und einmal für Athen erzeugt einen neuen Weitblick. Beide Orte konnten Mehrwert kreieren, was davon über die Kunst hinaus an Lehren gezogen wird bleibt natürlich offen.

Welche Zweifel bleiben zurück?

RS: So manche Kassel Besucher sind enttäuscht über den Zeitverlust vor Ort, weil die documenta durch unzureichende Pläne und oberflächliche Karten zu einem aufreibenden Suchspiel wird. Einwohner der Stadt wiederum vermissen wegen der hohen Eintrittspreise die Gelegenheit alles kennen zu lernen. 

PW: Bereits nach den ersten Tagen in Athen regnete es Kritik über die mangelnde Vermittlung. Vieles davon wurde wenig reflektiert in Kassel fortgesetzt. Und dies scheinbar bewusst. Im Daybook, das die Ausstellungen begleitet, heißt es, dass man sich durchaus von dem collageartigen Buch teilweise "irregeleitet" fühlen kann und in einem Interview sprach Adam Szymczyk sich dafür aus die Kunst einfach unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen. Freilich. Doch gilt dies immer nur so weit bis die Wahrnehmung einer künstlerischen Position nicht unter einer mangelhaften Vermittlung leidet. So veröffentlichte die Plattform Artsy einen Artikel mit dem äußerst trefflichen Titel "How Documenta's Curators Failed Its Artists" worin unter anderem die mangelhafte Beschilderung der Ausstellungsräume thematisiert wird.

Die großen Themen die in Kassel so zahlreich aufgegriffen werden erwarten Kontextualisierung (vor allem in Bezug auf die indigene Kunst stellen sich politische, historische, geografische Einordnungsfragen). Unterdessen gelangt die documenta inhaltlich teilweise an ihre Schranken – einer documenta die sich vorgenommen hat alle einzubeziehen wirft man schnell jene Minderheiten vor die sie vergessen hat, ein Problem, dass sie sich selbst auferlegt hat. Und wie beurteilt man "Außenseiter-Kunst" überhaupt politisch korrekt? Ist das ein weiteres "Ende der Kunstkritik"? Fragen, die ich wohl besser wieder schnell verlerne.

RS: Tatsächlich verblüfft es, welche vereinfachenden Formeln die documenta bemüht. Manche Leitmotive zum Thema Globalisierung und den Auswirkungen der Kolonialpolitik werden als derart sensationell neu propagiert, als hätte es dazu nicht seit den 1970er Jahren massive kritische Debatten gegeben, die Auswirkungen bis in den Schulunterricht hatten. Hier führt die documenta das aktuell beliebte Motiv des Verlernens ins Treffen. Damit ist eine skeptische Haltung gegenüber einer traditionell eurozentristischen Weltsicht gemeint. Aus dem Abstand betrachtet aber hinkt dieser Fokus den gegenwärtigen Entwicklungen hinterher. Im Gegensatz zum vage definierten Verlernen ist nämlich – umgekehrt – die Aufrechterhaltung von Kulturinstitutionen und der Weiterbestand von Medien unter den Bedingungen zunehmend autoritärer Staatssysteme eine brennende Fragen aktuell, während weitflächige Kampagnen zur Destabilisierung von Information per Internet vorbereitet werden. Eine zentrale Herausforderung ist die Fortführung kritischer, differenzierter kultureller Diskurse. Geht man davon aus, dass Weltsicht heute – auch jene von Flüchtlingen – zunehmend durch mediale, digitale Technologien geprägt ist, so bleibt die Frage, warum dieser nahezu alles umfassende Aspekt fast gar nicht berührt wurde. Ihrer Bedeutung gemäß postuliert auch diese documenta die Erarbeitung einer neuen Weltsicht. Leider blieb deren Leiter Adam Szymczyk aus dem Blickwinkel seiner korrekten Sichtweise heraus einer offenen Gegenwartsdiagnose gegenüber verschlossen. Neues Terrain aufsuchend hätte sie ihn vielleicht mehr auf die Spuren heutigen künstlerischen Forschens geführt.

 

Roland Schöny ist Kulturwissenschafter und Journalist. Er lehrt er an der Universität für Angewandte Kunst, Abteilung Digitale Kunst und Transmediale Kunst.

Paula Watzl ist Kunsthistorikerin, Journalistin und Kunstkritikerin. Seit Februar 2017 ist sie Teil der PARNASS Redaktion.

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