Meisterwerke #8

Der Knabe mit der roten Weste

Drei maskierte Männer stürmen die Zürcher Sammlung E.G. Bührle. Mit vorgehaltener Waffe zwingen sie Besucher und Museumsangestellte auf den Boden. Drei Minuten später ist der Coup gelaufen. Vier Gemälde werden bei diesem Kunstraub im Februar 2008 entwendet. Wert: 180 Millionen Franken. Darunter: Paul Cézannes „Der Knabe mit der roten Weste“. Vier Jahre lang bleibt das Bild verschwunden, 2012 spüren es Ermittler in Belgrad wieder auf.


Cézannes Gemälde galt jedoch schon vor dieser ungewollten Medienpräsenz als Berühmtheit und als Fixpunkt in jeder größeren Impressionisten-Ausstellung. Dabei ist das modische Bild mit stylischer Weste alles andere als leicht zugänglich. Bereits der überlange Arm im Vordergrund, von dem Max Liebermann angeblich meinte „ein so schön gemalter Arm könne gar nicht lang genug sein“, bildet auf den ersten Blick eine Art Schranke, die den Zutritt zur Szenerie verweigert. Erst bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass gerade diese Abnormalität wesentlich zur Geschlossenheit der Komposition beiträgt. Ein Meisterhafer Kunstgriff, der den Blick auf den Kreis aus Gesicht, rechtem Arm und stützendem Ellenbogen lenkt.

Der Knabe mit der roten Weste
1888 bis 1890

Paul Cezanne
1839 bis 1906, Aix-en-Provence

 

Originaltitel: Titel: Le Garçon au gilet rouge

Stil: Post-Impressionismus

Technik: Öl auf Leinwand

Format: 79,5 x 64 cm

Erstpräsentation: Galerie Ambroise Vollard, Paris 1895

Heute: Stiftung Sammlung E. G. Bührle/Zürich

Schätzwert zum Zeitpunkt des Diebstahls 2008: 91 Millionen US-Dollar

2012: Fund in Serbien und Rückführung in die Sammlung

Paul Cezanne, Knabe mit der roten Weste, 1889/1890, Öl auf Leinwand, Foundation E.G. Bührle Collection

Modern Style Vest

Für einen übergeordneten Zusammenhalt sorgt dann die Farbpalette. Das Kolorit des Raumes scheint sich von der Weste des Jungen auszudehnen oder sich in dem Modestück zu verdichten. Knabe, Weste und Raum verschmelzen zur untrennbaren Einheit, reduzierte Gesichtszüge formen den Jungen zum Interieur. Die anfänglich irritierende Arm-Schranke entpuppt sich schließlich als Passage in die Welt der Moderne. Statt Porträt-Details rückt das perspektivisch verzerrte Bild-Ganze in den Vordergrund (ähnlicher Innenraum wie das Gemälde „Madame Cézanne im roten Kleid“, das zur selben Zeit entstanden ist), erst nach und nach treten tiefere Interpretations-Ebenen aus der kantigen Bild-Landschaft heraus.

Frankreichs Trikolore

Die Natur – vormals Nährboden für die Philosophie der Aufklärung – ist als schmückendes Souvenir, als Fenster zur Vergangenheit in den Hintergrund gerückt. Industrie und überseeische Konkurrenz bedrohen den Zauber des ehemaligen Sehnsuchtsorts. Die Welt hat weniger zu bieten. Auf sich selbst zurückgeworfen und in Gedanken versunken nähert sich die Körpersprache des Knaben daher Albrecht Dürers „Melancholia I“ oder dessen „Christus als Schmerzensmann“ an. Gekleidet in die Farben der Trikolore (rot/weiß/blau) tritt der Knabe scheinbar als Synonym Frankreichs auf. Ist er ein Symbol für die Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit der Nation?

Ebenso leer wie der Blick des Modells ist jedenfalls auch das Papier auf dem Tisch. Vielleicht ein Brief, vielleicht ein Zeichenblatt (stellvertretend für die Krise der modernen Malerei) – es bleibt offen. Der „Knabe“ ist eben nicht nur maltechnisch modern, seine „rote Weste“ verfügt auch über viele versteckte Taschen.

Paul Cezanne, Knabe mit der roten Weste, 1889/1890, Öl auf Leinwand, Foundation E.G. Bührle Collection

Übrigens: Sechs Werke, darunter vier Ölgemälde hat der Cézanne zu diesem Sujet angefertigt. Eine Version (heute: National Gallery of Art/Washington, D.C.) wurde 1958 für umgerechnet 1,5 Millionen Dollar von einem amerikanischen Sammler erworben. Damals der höchste Preis für ein modernes Gemälde. Der Knabe aus der Bührle-Sammlung wird mittlerweile auf 62 Millionen Euro geschätzt.

Literatur

Alexander Eilling: Cézanne. Metamorphosen (Prestel; 2017)

Rebecca Rabinow (Hg.): Cézanne to Picasso: Ambroise Vollard, Patron of the Avant-Garde (Yale University Press; 2006)

Kurt Pfister: Cézanne, Gestalt, Werk, Mythos (Kiepenheuer; 1927)

Das könnte Sie auch interessieren