Individualstil als Freiheitsberaubung

Birgit Jürgenssen: „Ich will mir kein Markenzeichen ausdenken“

Birgit Jürgenssen, Ich möchte hier raus!, 1976, S/W Fotogafie, 40 x 30 cm, Estate Birgit Jürgenssen | Estate Birgit Jürgenssen. Courtesy Galerie Hubert Winter, Wien | Bildrecht Wien, 2018

„Nach einer Phase, in der sie Allerlei ausprobierte, fand die Künstlerin ihren ganz eigenen Stil.“ Hätte Vladimir Propp nicht russische Märchen, sondern Künstlernarrative untersucht, hätte er wohl diese Grundstruktur entdeckt, die in Ausstellungen und Büchern immerzu reproduziert wird. Noch vor dem Frühwerk gibt es künstlerische Arbeiten, die gar nicht richtig zum Werk zählen, weil sie zu uneinheitlich und oft wenig originell sind.


Dass die Details der Handlung und die Helden und Heldinnen austauschbar sind, macht solche Erzählungen plausibel. „Ich bin“, die von Nicole Fritz und Natascha Burger kuratierte Birgit Jürgenssen Retrospektive in der Kunsthalle Tübingen ist erfrischend anders, obwohl sie ähnlich beginnt.


Oft zart und manchmal zotig

Im Vorraum der Kunsthalle sind Schulhefte ausgestellt, in die die Künstlerin mit acht Jahren hineinzeichnet und die retrospektiv so manches erahnen lassen: Die kleine Birgit zeichnet sich vogelhaft über den Feldern fliegend; in Anspielung auf ihren Spitznamen signiert sie spielerisch „BICASSO Jürgenssen“ und eignet sich so 50 Jahre vor Citroën und ganz ohne kommerzielles Interesse, die Identität eines männlichen Künstlers an.

Jede Serie ist auf ihre eigene Weise berührend und humorvoll...

Klaus Speidel

Der Raum, der darauf folgt, bringt Bilder der zwanzigjährigen Künstlerin zusammen: Drucke, die in Zweiergruppen Sprichwörter illustrieren, hängen neben der Geschichte des Trampels, das alles Mögliche und schließlich auch sich selbst zerbricht. Lustige Tierbildern aus Deckweiß und Tusche und Skizzen teilen sich eine Wand mit cartoonartigen Bildgeschichten.

Birgit Jürgenssen, Ohne Titel (Das Trampel; Blatt 8), 1969, Bleistift, Deckfarbe, Tusche auf Papier, 30 x 44 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter

Birgit Jürgenssen, Ohne Titel (Das Trampel; Blatt 8), 1969, Bleistift, Deckfarbe, Tusche auf Papier, 30 x 44 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter

Jede Serie ist auf ihre eigene Weise berührend und humorvoll, oft zart und manchmal zotig. Sie sehen alle ganz unterschiedlich aus – und obwohl es nachher gar nicht so anders wird, nimmt das Ausstellungsnarrativ diesen Raum doch etwas aus der Reihe, wohl weil Illustrationen immer noch nicht so richtig als Kunst gelten, und macht ihn so zum lustvoll kuriosen Werk vor dem Frühwerk.

Birgit Jürgenssen, Ohne TItel,1969, Farbstift auf Büttenkarton, weiß gehöht, 43,9 x 62,6 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter

Birgit Jürgenssen, Ohne Titel,1969, Farbstift auf Büttenkarton, weiß gehöht, 43,9 x 62,6 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter


Künstlerischer Stil als künstliche Selbstbeschränkung

Räume wie dieser gehören zur klassischen Ausstellungs- und Katalogdramaturgie. Sie zeigen das Tasten und Experimentieren von Künstlerpersönlichkeiten im Entstehen und fungieren als biographische Wunderkammern mit Aha-Effekt: Mondrian hat einst Bäume gemalt, Darboven figurativ gezeichnet und Magritte sich an kubistischen Collagen versucht. Aha! Zunächst scheinen solche Räume (oder Katalogseiten) zu zeigen, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist und viel bewunderte Künstlerpersönlichkeiten auch nur Menschen waren.

Aber die Tiefenwirkung ist eine andere. Denn der Bruch mit der Tradition kommt und wirkt dadurch umso beeindruckender: Denn eklektische Anfänge suggerieren uns, dass das allgemein bekannte Werk eigentlich voraussetzungslos entstanden ist und macht das „Finden“ des eigenen Stils zur genialen Selbstfindung.

In Wahrheit ist das, was man im Allgemeinen das „Finden“ des eigenen Stiles nennt, meist eine Art brutale Selbstbeschränkung, die nicht von ungefähr kommt. In Abwandlung eines Satzes zur Liebe von La Rochefoucauld, könnte man sagen: „Es gibt viele Künstler und Künstlerinnen, die nie ihren eigenen Stil gefunden hätten, wenn sie nicht vom eigenen Stil hätten reden hören.“


Kunst als Abstecken von Claims

So suchen die meisten Kunststudenten fünf Jahre lang unter Anleitung ihrer Professoren fieberhaft nach etwas, das sie „besitzen“ können, wie Jenny Holzer die Slogans, Koons den Kitsch, Silvie Fleury das Shopping, ORLAN die Schönheitsoperationen, Darboven das Schreiben und Bourgeois die Spinne. Wie bereits diese (von Vuk Vidor inspirierte) Liste vermuten lässt, sind die großen Themen alle schon weg.

Die meisten jungen Künstler halten sich deshalb an kleine thematische und formale Variationen. Das hat wohl weniger mit Kalkül zu tun als mit einem Mechanismus, den Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften elegant beschreibt: „Ein junger Mensch, wenn er geistig bewegt ist […] sendet unaufhörlich Ideen in allen Richtungen aus. Aber nur das, was auf die Resonanz der Umgebung trifft, strahlt wieder auf ihn zurück und verdichtet sich, während alle anderen Ausschickungen sich im Raum verstreuen und verlorengehen!“

Finden Künstler etwas, das in den Augen der anderen als etwas Besonderes und Eigenes gelten kann, halten sie daran fest und glauben womöglich selbst, sie hätten sich gefunden. Die sogenannte künstlerische „Selbstfindung“ hat also weniger mit Genie als mit vorauseilendem Gehorsam und selbsterfüllender Prophezeiung zu tun. Dass sich gerade Jürgenssen dagegen sträubt, ist vermutlich kein Zufall.

Denn schließlich geht es bei ihr immer wieder um das Ausbrechen aus vorgegebenen Lebensläufen. Dabei denkt man meist an die Rolle als Hausfrau und Mutter, offenbar betrifft der Ausbruch aber auch die Reproduktion eines klassischen Künstler- und Künstlerinnen -Narrativs.

Birgit Jürgenssen, Ich möchte hier raus!, 1976, S/W Fotogafie, 40 x 30 cm, Estate Birgit Jürgenssen | Estate Birgit Jürgenssen. Courtesy Galerie Hubert Winter, Wien | Bildrecht Wien, 2018

Birgit Jürgenssen, Ich möchte hier raus!, 1976, S/W Fotogafie, 40 x 30 cm, Estate Birgit Jürgenssen | Estate Birgit Jürgenssen. Courtesy Galerie Hubert Winter, Wien | Bildrecht Wien, 2018


Jürgenssen besitzt den Schuh

Jeder Saal hält eine Reihe von Überraschungen bereit. Man spürt förmlich, wie die Kuratorinnen aus dem Vollen schöpfen, anstatt krampfhaft nach einer Vorzeichnung zu suchen, die man vielleicht noch nicht kennt. Jürgenssens begrenzter Erfolg war ihrer Freiheit sicher zuträglich, ja, sie hat sich ganz bewusst gegen Festlegungen gewehrt. Mit den Schuhen hat sie sofort aufgehört, als diese so bekannt wurden, dass man bis jetzt behaupten könnte: „Jürgenssen besitzt den Schuh“. In einem Gespräch mit Heidemarie Sebladnig macht die Künstlerin diese Haltung explizit: Das Experimentieren, sagt sie darin, interessiert sie mehr als sich „ein Markenzeichen auszudenken“.

Birgit Jürgenssen, Rosstschuh, 1976, Verrostetes Eisen, 20 x 10 x 16 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter

Birgit Jürgenssen, Rosstschuh, 1976, Verrostetes Eisen, 20 x 10 x 16 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter

„Markenzeichen“ und „Ausdenken“: Das sind zwei Ausdrücke, die sich diametral zum Narrativ der genialen künstlerischen Selbstfindung verhalten, aber die Sache umso treffender beschreiben. Die Dunkelziffer künstlerischer Experimente, die abgebrochen wurden, um eine Markenidentität nicht zu gefährden, kann man sich wohl kaum zu hoch vorstellen. So muss man es Jürgenssen hoch anrechnen, dass sie nicht eingeknickt ist und sich ganz bewusst gegen die Marke entschieden hat.


Jürgenssen jenseits des Feminismus

Selbst eine Reduktion auf den Feminismus lässt die Tübinger Ausstellung nicht mehr zu. Auf den Raum mit Illustrationen folgen nämlich nicht die feministischen Arbeiten, sondern das Thema Mensch und Natur. Aber der thematischen Einheit steht auch in diesem Raum formale Vielheit gegenüber.

Jürgenssen arbeitet schelmisch pseudowissenschaftlich, aquarelliert minimalistisch, zeichnet und malt mit Blei- und Buntstift, schafft allegorische und surrealistische Bilder – oder alles auf einmal: die Künstlerin findet immer neue Arten, die tiefen Beziehungen darzustellen, die zwischen Mensch und Tier von Natur aus bestehen oder durch geduldiges Aufeinanderzugehen entstehen können.

Auch Fotografien – künstliche und künstlerisch verzerrte – finden Platz in der Ausstellung. Dabei spricht selbst aus ihrem Polaroid, dem glaubwürdigen Foto schlechthin, mehr eigensinniges „Ich bin“ als authentifizierendes „Es ist so gewesen“ nach Roland Barthes. Auch in Wien kann man sich derzeit in der Galerie Hubert Winter fotografische Experimente ansehen, wo Jürgenssen nähend in Fotos eingreift und sie damit endgültig dem Authentizitätsparadigma entreißt.

Birgit Jürgenssen, Streicheln, 1978/79, Aquarell auf Papier, 45 x 62,2 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter

Birgit Jürgenssen, Streicheln, 1978/79, Aquarell auf Papier, 45 x 62,2 cm | Estate Birgit Jürgenssen/Bildrecht, Wien, 2018 | Courtesy Galerie Hubert Winter


Eigentümlichkeit ohne Individualstil

„Hast du es selbst gedacht, so wird deine Erfindung einer schon erfundenen Sache gewiß allemal das Zeichen des eigenthümlichen an sich tragen“, schreibt Georg-Christoph Lichtenberg und ermutigt damit zum Selberdenken. Und tatsächlich scheint sich auch bei Jürgenssen Lichtenbergs Diktum zu bewahrheiten: Bis auf die expressionistische Malerei in einem der letzten Säle ist alles inhaltlich oder formal eigensinnig und Jürgenssen Individualität scheint durch, auch wenn Technik und Stil sich ständig ändern.

Jürgenssen Individualität scheint durch, auch wenn Technik und Stil sich ständig ändern.

Klaus Speidel

Dabei entsteht ein so beeindruckendes Werk, dass man sich wünschen möchte, dass immer mehr Künstler das Ideal des Individualstils aufgeben und das Markenmanagement dem Marketing überlassen. Das geht natürlich besonders gut, wenn wir als Publikum verstehen, dass formale und inhaltliche Vielgestalt kein Mangel an Eigensinn ist. Die Ausstellung ist noch bis 15. Februar in Tübingen zu sehen und wandert dann nach Italien und Dänemark.

Kunsthalle Tübingen

Philosophenweg 76, 72076 Tübingen
Deutschland

Birgit Jürgenssen. Ich bin, Kunsthalle Tübingen: noch bis 15. Februar 2019

Birgit Jürgenssen, Galerie Hubert Winter, Wien: noch bis 16. Februar 2019

 

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