Benoît Piéron. Monstera deliciosa
Das mumok präsentiert bis 7. Jänner 2024 die erste museale Einzelausstellung des französischen Künstlers Benoît Piéron. Seine künstlerische Praxis ist durch seine lebenslange Erfahrung mit Krankheit geprägt.
Benoît Piérons künstlerische Praxis ist durch seine lebenslange Erfahrung mit Krankheit sowie eine Kindheit geprägt, die er größtenteils im Krankenhaus verbrachte. Er beschäftigt sich mit dem medizinischen und gesellschaftlichen Umgang mit kranken Körpern, mit Erfahrungen des Wartens und der Ungewissheit, mit Fürsorge und Intimität. Wenn er etwa in Patchwork-Technik aus recycelten Krankenhauslaken Decken, Kissen oder Stofftiere anfertigt, verwandelt er die standardisierte Ausstattung des Krankenhauses in sinnliche Körper, die, so der Künstler, der Krankheit „Plastizität“ verleihen.
Mit Monstera deliciosa, dem Titel seiner ersten musealen Einzelausstellung, bezieht Piéron sich auf eine Pflanze, die heute die Wartezimmer vieler Arztpraxen schmückt, tatsächlich aber aus den Tropen Amerikas stammt und im 19. Jahrhundert als Kolonialgut nach Europa importiert wurde, wo sie ihren Namen erhielt. Monstera leitet sich vermutlich vom lateinischen Begriff für „Monster“ ab, während deliciosa auf die „köstlichen“ Früchte der Pflanze Bezug nimmt.
Um das Warten, die Kolonialisierung von Körpern und die Fähigkeit, das Wunderbare im Monströsen zu entdecken, geht es auch in Piérons Ausstellung, die einen Warteraum simuliert, in den die Außenwelt auf poetische Weise eindringt. An den Wänden bewegen sich sanft die Schatten von Blattwerk, so als würde das Licht der Sonne durch das Laub von Bäumen auf die Wand fallen. Die Decke wiederum zeigt einen Wolkenhimmel in Pastellfarben, vergleichbar den illusionistischen Fresken, mit denen Maler die Decken von Kirchen und Palazzi zierten. Es gibt Sitzgelegenheiten und Tischchen, so wie man sie in den Wartebereichen medizinischer Einrichtungen überall auf der Welt findet.
Warten hat mit Ohnmacht zu tun. Es bedeutet, der Logik einer anderen Instanz ausgeliefert zu sein, bedeutet, die Zeit „totschlagen“ zu müssen. Warten gilt als unproduktive Zeit, so wie auch die Körper, die in den Wartezimmern verharren, als unproduktiv gelten.
Benoît Piéron hat viel Zeit mit Warten und in Wartezimmern verbracht. Ausgehend von seiner eigenen Krankenbiografie ist ihm das Warten gewissermaßen zur zweiten Natur geworden, zu einer Natur allerdings, die nicht von Leere, sondern von Fülle gekennzeichnet ist: von der Fähigkeit zur genauen Beobachtung; von fokussierten Tätigkeiten, die keines großen Aktionsradius bedürfen; von dem Vermögen, im vermeintlich Banalen Wundersames zu entdecken; von der Begabung zu reisen, auch wenn der Körper stillsteht.
Als Referenzen für ein Produktivmachen des Wartens nennt Piéron Xavier de Maistres Roman Voyage atour de ma chambre (Die Reise um mein Zimmer) aus dem Jahr 1794 oder auch den Film Tom et Lola (1990) des Regisseurs Bertrand Arthuys, der von zwei Kindern handelt, die aufgrund einer Immunschwäche in hermetisch versiegelten Plastikblasen in einem Pariser Krankenhaus leben. Gemein ist beiden Geschichten, dass ihre Protagonist*innen kreative Wege finden, um trotz ihres Gefangenseins neue Welten zu erschließen.
Als ein Sinnbild für das imaginative Reisen können die Schneekugeln verstanden werden, die auf den Tischen in Piérons Wartezimmer platziert sind. Jene mit Flüssigkeit gefüllten Glaskugeln, die, wenn man sie schüttelt, künstliche Schneeflocken auf miniaturhafte Szenen und Objekte rieseln lassen, sind beliebte Mitbringsel und zählen zum Standardrepertoire jedes Souvenirshops. Erstmals patentiert wurde die Schneekugel im Jahr 1900 in Wien, und zwar von dem Erfinder Erwin Perzy I, der auf die Herstellung chirurgischer Instrumente spezialisiert war: Beim Versuch, mittels einer mit Wasser und Gries gefüllten Glaskugel eine lichtstärkere Operationslampe zu konstruieren, entstand durch Zufall das Grundprinzip der Schneekugel.
Von ihrer Geschichte, Licht in den Körper bringen zu wollen, hat die Schneekugel sich emanzipiert. Sie wurde zu einem Souvenir, zu einem magischen Werkzeug der Erinnerung, mit dem sich besondere Erlebnisse wachrufen und teilen lassen: Mit einer einfachen Bewegung der Hand lässt sich die gefrorene Welt hinter Glas zu neuem Leben erwecken.
Auch Piérons handgefertigte Schneekugeln sind kleine Zeitkapseln, mittels derer der Künstler signifikante Momente aus seiner vom Umgang mit Krankheit geprägten Biografie teilt. Einige der Kugeln referieren auf seine Kindheit, auf Menschen, TVSerien und Geschichten, die ihn prägten. Andere thematisieren Erfahrungen von Schmerz, Gewalt oder Lust; wieder andere erzählen von Piérons Faszination für Pflanzen und das Dekorative sowie von seinen Anstrengungen, dem medizinischen Blick auf den kranken Körper andere Bilder entgegenzusetzen.
Einen besonderen Platz in Piérons Wartezimmer erhält Monique, eine Fledermaus, die ihn als Alter Ego und Kompagnon in unterschiedlicher Gestalt seit einigen Jahren begleitet. Monique verkörpert das in seine Kindheit zurückreichende Interesse Piérons an der Figur des Vampirs, jenem Untoten, der ein besonders lustvolles Verhältnis zu menschlichem Blut unterhält. Manchmal tritt Monique als niedliches Stofftier auf, das Piéron aus recycelten Krankenhauslaken näht, um diese mit den Spuren kranker Körper versehenen Reste zu einem neuen kollektiven Körper zu verbinden. Die Pastellfarben, die sich allerorts in seinen Arbeiten finden, leiten sich von den Farben solcher Laken in französischen Krankenhäusern ab.
In der Ausstellung Monstera deliciosa begegnet Monique den Besucher*innen gleich zweifach: als Miniatur in einer der Schneekugeln und in Form eines Kostüms, dessen Umhang aus einem Patchwork recycelter Krankenhauslaken gefertigt ist. Das Fledermauskostüm orientiert sich an Piérons Körpermaßen. Er könnte es überstreifen, um diesem unter der Erde liegenden Wartezimmer durch den pastellfarbenen Wolkenhimmel zu entfliehen – und uns sowie unsere normativen Vorstellungen von Körper und Krankheit auf die Reise ins Ungewisse mitnehmen.
Benoît Piéron teilt mit der Medizin die kindliche Neugier, wissen zu wollen, was unter seiner Haut vor sich geht. Ihm geht es allerdings nicht um die „Reparatur“ eines als defekt verstandenen Körpers, sondern darum, jenen institutionellen und gesellschaftlichen Kräften Widerstand zu leisten, die seinen Körper als „krank“ einstufen. So verwandelt Piéron seine Krankheit in eine Kunst des Überlebens.
Artist Talk
Gespräch zwischen Benoît Piéron und Élisabeth Lebovici
Ein Gespräch über das Warten, die Kolonialisierung von Körpern und die Fähigkeit, das Wunderbare im Monströsen zu entdecken.
Benoît Piéron (* 1983, Ivry-sur-Seine) studierte an École nationale supérieure des beaux-arts in Paris und lebt und arbeitet in Paris.
Élisabeth Lebovici lebt als Kunsthistorikerin und -kritikerin in Paris. Sie war Journalistin für die Tageszeitung Libération (1991–2006). Seit 2006 leitet sie (zusammen mit Patricia Falguières und Natasa Petresin-Bachelez) ein Seminar an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris.
Mittwoch, 22. November 2023, 19 Uhr