Ilit Azoulay

Auf der Suche nach alternativen Geschichten und Erzählungen

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Vor zwei Jahren bespielte Ilit Azoulay (*1972 Jaffa) den Israelischen Pavillon auf der Biennale von Venedig mit „Queendom“, einer interdisziplinären Arbeit. Grundlage von „Queendom“ und allen anderen Arbeiten der Künstlerin ist akribische Recherche, oft in Archiven. Die Ergebnisse fließen in vielteilige Arbeiten ein, die aus verschiedenen Medien wie Foto und Sound, Architektur, Video und Performance bestehen.


Es gehe ihr in ihren Arbeiten nicht nur darum, die Mehrdeutigkeit von Objekten einzufangen, sondern oft auch um Bedeutungsverschiebungen, sagt Ilit Azoulay. Für „Queendom“ hat sie mit dem Fotoarchiv des österreichisch-jüdisch-britischen Kunsthistorikers und Sprachforschers David Storm Rice (*1913 Schönbrunn, 1962 London ) gearbeitet. Seine Fotos mittelalterlicher islamischer Metallgefäße lagerten bis 2020 nahezu vergessen im Museum für islamische Kunst in Jerusalem. Ein PARNASS-Gespräch über die Grundlagen ihrer Arbeiten.

PARNASS: Woher rührt Ihr Interesse an Archiven?

Ilit Azoulay: In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit der Art und Weise, wie Informationen aufbewahrt, archiviert und weitergegeben werden. Archive sind in der Lage, den Fluss von Informationen und kulturellen Erzählungen über die Zeit zu bewahren. Indem ich mich mit Archiven beschäftige, untersuche ich, wie Informationen gespeichert werden und welche Kriterien darüber entscheiden, was bewahrt oder verworfen wird. Auf diese Weise entdecke ich übersehene oder vergessene Materialien, die alternative Geschichten und Erzählungen offenbaren. Diese Erkundungen beeinflussen den Inhalt meiner Arbeit und prägen meine Herangehensweise an die Schaffung und Präsentation von Kunst. Diese Erkundungen heben die dynamischen Prozesse der Transformation und Verbreitung, die der archivarischen Praxis innewohnen, hervor.

P: Was fasziniert Sie speziell an Dingen, denen sonst niemand Aufmerksamkeit schenkt?

IA: Was mich am Unbeachteten fasziniert, ist die Möglichkeit, den inneren Wert und die verborgenen Erzählungen in der Peripherie und nicht im Zentrum zu erforschen und zu beleuchten. Diese Aufmerksamkeit für die „Peripherien“ ermöglicht es mir, vielfältige Realitäten aufzudecken und Alternativen zu männlich dominierten oder eurozentrischen Formen des Geschichtenerzählens und der Wissensvermittlung zu erkunden. Auf diese Weise möchte ich die traditionelle Vorstellung dekonstruieren, dass die Fotografie einen entscheidenden Moment einfangen soll. Stattdessen möchte ich mehrere Blickwinkel, mehrere entscheidende Momente vorschlagen, da ich glaube, dass dies der richtige Weg ist, um die Realität zu verstehen.

Diese alternativen Geschichten oder Perspektiven fordern den vorherrschenden Diskurs heraus. Indem ich mich auf das konzentriere, was üblicherweise ignoriert wird, möchte ich neue Einsichten und Gedanken über die Komplexität unserer kulturellen und historischen Landschaften anbieten.

Queendom, Panel 3, 2022, Tintenstrahldruck, 215 × 135 × 5 cm, Auflage 2/2 + 1 AP, LOHAUS SOMINSKY, © Ilit Azoulay / LOHAUS SOMINSKY, München / Braverman Gallery, Tel Aviv

Queendom, Panel 3, 2022, Tintenstrahldruck, 215 × 135 × 5 cm, Auflage 2/2 + 1 AP, LOHAUS SOMINSKY, © Ilit Azoulay / LOHAUS SOMINSKY, München / Braverman Gallery, Tel Aviv

P: Daher kommt Ihr Wunsch, mit der vergessenen Realität in Kontakt zu kommen?

IA: Die Beschäftigung mit unbeachteten Realitäten legt die selektive Natur von Erinnerung und Geschichte offen und hinterfragt, was geschätzt wird, und was für die Bewahrung ausgewählt wird. In den White Cubes der Museen repräsentieren die Objekte, die ausgewählt werden, um unsere kulturellen Geschichten zu erzählen, oft nur einen Blickwinkel – ebenso das, was in den Geschichtsbüchern steht. Mein Interesse gilt den Umständen und der Machtdynamik, die hinter diesen Entscheidungen stehen: Ich versuche herauszufinden, welche kulturellen und historischen Fakten übersehen oder verworfen werden, um Platz für die ausgewählten Erzählungen zu schaffen.

P: Blau spielt in Ihren Arbeiten eine große Rolle. Warum Blau? Was bedeutet Ihnen diese Farbe? 

IA: In meinem Projekt „Queendom“ verwende ich speziell Lapislazuli, auch bekannt als Ultramarin. Der Name Ultramarin bedeutet übersetzt „jenseits des Meeres“, was seinen Ursprung widerspiegelt. Das Pigment wurde historisch in Afghanistan abgebaut und von italienischen Händlern im 14. und 15. Jahrhundert nach Europa gebracht. Bei Handel und Verwendung dieses Pigments geht es ebenfalls um Wissenstransfer und die Herkunft der Dinge.

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

P: Wenn Sie Bilder von Kriegern in Bilder von Kriegerinnen verwandeln – was ändert sich dadurch? Welche neue Perspektive eröffnet sich durch diese Verschiebung?

IA: Ich gestalte die Kriegerfiguren aus den Makroaufnahmen im Archiv von David Storm Rice um, weil ich Lücken in den Geografien des Wissens füllen möchte. Wenn diese neuen Figuren auftauchen, schwingen sie keine Waffen mehr, um sich zu verteidigen. Anstatt verletzen oder morden zu wollen, bieten sie andere Formen der Stärke an. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn wir die toxische Männlichkeit aus der Gleichung der Gesellschaft entfernen – die traditionellen Darstellungen von Macht und Konflikt beginnen sich zu verändern.
Durch diese Veränderung werden Rollen und Bedeutungen neu definiert und etablierte Normen von Geschlecht, Gewalt und Autorität in Frage gestellt und untergraben. Das eröffnet neue Perspektiven darauf, wie wir Symbole für Stärke und Widerstandsfähigkeit interpretieren.
Ich bin überzeugt, dass diese Transformation den Zugang zu einem nicht-patriarchalen, überregionalen Bereich eines vernetzten Nahen Ostens eröffnet, in dem Identitäten fließend, Ambivalenzen willkommen sind und Komplexität geschätzt wird.

Queendom-Archiv im Studio von Ilit Azoulay in Berlin, 2022, © Ilit Azoulay

Queendom-Archiv im Studio von Ilit Azoulay in Berlin, 2022, © Ilit Azoulay

P: Was für eine Art von Staat ist „Queendom“?

IA: „Queendom“ ist eine kollaborative, rhizomatische, forschungsbasierte Dokufiktion, in der Geschichten und historische Erzählungen miteinander verschmelzen. Nach meinem Verständnis hat „Queendom“ schon immer existiert, nur war es im Schatten, versteckt und zum Schweigen gebracht. Im Kontext meiner Arbeit ist „Queendom“ ein metaphorischer und transformativer Zustand.  Die Queens von „Queendom“ arbeiten zusammen, um Stimmen aus der Zukunft in die Gegenwart zu tragen. Bei einigen dieser Stimmen handelt es sich um gesprochene Botschaften in Form eines Gedichts, bei anderen um Übertragungen einer universellen Sprache. Diese Klangübertragungen sind das Herzstück von „Queendom“.

P: Worauf basieren diese Klangübertragungen? 

IA: Sie entstanden durch die Zusammenarbeit mit Maisoun Karaman, einer palästinensischen Heilerin, die israelisch-palästinensische Frauengruppen leitet und als spiritueller Coach, Energieheilerin und Lichtsprachpraktikerin tätig ist. Dafür haben wir Text-, Bild-, Traum- und zusätzliches Forschungsmaterial aus dem Archiv von David Storm Rice verwendet. Während unserer Sitzungen empfing Karaman gelenkte Botschaften, die von einem Tontechniker aufgenommen wurden, der die Sitzungen begleitete. Der Klang ihrer Übertragungen füllt die Leere und durchdringt „Queendom“ mit Codes aus der Zukunft. Wir verstehen „Queendom“ als eine Symphonie von Heilungscodes. Die wiederkehrenden Klänge können in den Hörer eindringen und Samen der Transformation und Heilung säen.

P: Ist „Queendom“ ein in sich geschlossenes Werk oder kann es sich erweitern?

IA: „Queendom“ ist von Natur aus dynamisch. Jede Ausstellung ist mit einer für die jeweilige Zeit und den Ausstellungsort spezifischen Bedeutung aufgeladen, das Werk bietet eine fortlaufende Einladung zur Veränderung. „Queendom“, das 2022 auf der Biennale von Venedig gezeigt wurde, spiegelte noch nicht den aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und Israel wider. „Queendom Navigating Future Codes“ im Museum der Moderne Salzburg wurde nach dem Beginn dieses Konflikts eröffnet und bezog diese neuen Umstände in seine Erzählung und die Interaktion mit dem Publikum ein.

Queendom, Panel 8, 2023, Tintenstrahldruck, 130 × 115 × 5 cm, Auflage 1/2 + 1 AP, Collection Kirsten Schrick, © Ilit Azoulay / LOHAUS SOMINSKY, München / Braverman Gallery, Tel Aviv

Queendom, Panel 8, 2023, Tintenstrahldruck, 130 × 115 × 5 cm, Auflage 1/2 + 1 AP, Collection Kirsten Schrick, © Ilit Azoulay / LOHAUS SOMINSKY, München / Braverman Gallery, Tel Aviv

P: Wie verändert sich die Perspektive des Kunstbetrachters, wenn patriarchalische Strukturen in Frage gestellt werden?

IA: Meine Hoffnung ist, dass das Hinterfragen patriarchalischer Strukturen in der Kunst die Betrachter dazu anregt, ihre Standpunkte und Vorurteile zu überdenken. Mein Ziel ist, dass es zu einem tieferen Verständnis für die Komplexität von Geschlecht, Macht und historischer Erzählung führt. 

P: Einige Ihrer Werke sind so, dass man sie gerne betreten würde. Was würde man finden?

IA: Betrachter, die meine Werke betreten, tauchen in eine multisensorische Umgebung ein, in der sich visuelle, auditive und manchmal auch taktile Elemente zu einer transformativen Erfahrung verbinden. Sie werden Erzählungen begegnen, die Geschichte, Erinnerung und spekulative Zukünfte miteinander verweben, ihre Wahrnehmung herausfordern und sie einladen, die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

P: Wie muss man sich einen typischen Arbeitstag von Ilit Azoulay vorstellen?

IA: Ein typischer Arbeitstag besteht für mich aus einer Mischung aus Recherche, stundenlangem Fotomontieren und Zusammenarbeit mit anderen Menschen.

Ich habe ständig das Gefühl, dass meine Arbeitszeit nie ausreicht, es gibt immer noch so viel mehr zu tun – eine Erfahrung, die wohl viele Künstler teilen. Ein fester Bestandteil meines Tages ist die Mittagszeit. Ich genieße es sehr, zu kochen und das Mittagessen zu einem Moment der Ruhe inmitten des Chaos zu machen.

Queendom, Panel 5, 2022, Tintenstrahldruck, 199 × 157 × 5 cm, Auflage 2/2 + 1 AP, LOHAUS SOMINSKY, © Ilit Azoulay / LOHAUS SOMINSKY, München / Braverman Gallery, Tel Aviv

Queendom, Panel 5, 2022, Tintenstrahldruck, 199 × 157 × 5 cm, Auflage 2/2 + 1 AP, LOHAUS SOMINSKY, © Ilit Azoulay / LOHAUS SOMINSKY, München / Braverman Gallery, Tel Aviv

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Ausstellungsansichten: Ilit Azoulay. QUEENDOM. Navigating Future Codes, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2024, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: wildbild/Herbert Rohrer

Museum der Moderne Salzburg-Mönchsberg

Mönchsberg 32, 5020 Salzburg
Österreich

Ilit Azoulay
QUEENDOM. Navigating Future Codes

bis 16. Juni 2024

ARTIST TALK mit Ilit Azoulay und Tina Teufel 
16. Mai 2024 18-19 Uhr online via Zoom

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