Die Kunstmesse feiert ihr 25. Jubiläum

Artissima: Alternative zu den Big Playern?

Artissima 2018, Tag der Preview | Courtesy Artissima, 2018 © Perottino Piva Bottallo

Mit der diesjährigen Ausgabe der Artissima feiert die wichtigste italienische Messe für zeitgenössische, die besonders für ihren experimentellen Zuschnitt geschätzt wird, ihr 25. Jubiläum. Daneben punktet Turin mit den beiden Parallelmessen DAMA und Flashback sowie mit einer Vielzahl von sehenswerten Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst in den zahlreichen Museen der Stadt.


Seit 2010 findet die Artissima im Oval Lingotto, gleich neben dem ehemaligen Fiat-Produktionsgelände statt. Platz ist genug in dem 20.000 Quadratmeter großen Glaspavillon – einer ehemaligen Eishalle, die 2006 für die Olympischen Winterspiele gebaut wurde – und so sind auch die Galeriestände großzügig platziert. Direktorin Ilaria Bonacossa, Kunsthistorikerin und Kuratorin, hat zum 25-jährigen Bestehen der Messe ein ambitioniertes Programm auf die Beine gestellt: mit einer Mischung aus etablierten Galerien und experimentellen Neuzugängen.

Ihre Ankündigung bei ihrem Antritt als Messedirektorin 2016, diese mehr in das Zentrum von Turin zu verlegen, wurden nicht weiterverfolgt – was durchaus Synergien geschaffen hätte. Ist doch die enge Zusammenarbeit mit den vielen Institutionen zur Gegenwartskunst in Turin ein USP der Messe, so Bonacossa und lässt aus dem Messetagen eine „Art Week Turin“ werden. Von den 195 teilnehmenden Galerien stammen noch immer vierzig Prozent aus Italien. Sonst punktet die Messe mit der Möglichkeit ein großes Spektrum an Galerien aus England, Portugal, Spanien aber auch interessante Händler aus Russland und Afrika zu sehen. Mit wenigen Ausnahmen wird man auf der Messe nicht die ganz großen Galerien finden.

Das ist auch nicht die Intention von Ilaria Bonacossa: „Mein Ziel ist den frischen, jungen Charakter der Messe zu bewahren und auszubauen. Wir werden und wollen auch nicht die Big Player überzeugen, in Turin auszustellen. Im Gegenteil. Mir geht es darum Galerien zu zeigen, die Künstler aufbauen, über einen langen Zeitraum begleiten und nicht Galerien, die im eigentlichen Sinn im Bereich Secondary Market auftreten. Darüber hinaus erwarten das auch nicht die Sammler, die unsere Messe besuchen. Sie wollen Neues entdecken oder wie in der Sektion Back to the Future Künstler wiederentdecken und nicht Millionen etwa für einen Bansky ausgeben. Daher wird man dieses Preissegment in Turin nicht finden und auch nicht die Player des Global Art Markets.“

Sie wollen Neues entdecken oder wie in der Sektion Back to the Future Künstler wiederentdecken und nicht Millionen etwa für einen Bansky ausgeben.

Ilaria Bonacossa, Direktorin der Artissima

Die Jubiläumsausgabe der Artissma begrüßte 54.800 Besucher, ein Zuwachs von 2.800 gegenüber dem Vorjahr. Neben Ankäufen von Privatsammlern konnte die Artissima wieder wichtige Ankäufe großer Institutionen verzeichnen: 16 Arbeiten wurden vom Castello di Rivoli Museum für zeitgenössische Kunst und von GAM - Galleria Civica di Arte Moderna e Contemporanea Torino mit einem Gesamtbudget von 300.000 Euro angekauft und weitere drei Arbeiten wurden von der Fondazione Ettore Fico erworben.

Ilaria Bonacossa. Photo: Giorgio Perottino/ Artissima

Ilaria Bonacossa. Photo: Giorgio Perottino/ Artissima 

Auffallend bei der diesjährigen Artissima ist die Vielzahl an kuratierten Sektoren, wo, so scheint es, jedes Jahr neue hinzukommen und eine Reihe von Preisen, die jeweils die besten Künstler oder Galerien dieser Sektoren prämieren. Etwa „Disegni“, ein Schwerpunkt der im Vorjahr erfolgreich etabliert wurde und auch heuer wieder eine Reihe von Galerien versammelt, die Arbeiten auf Papier zeigen.

Darunter auch die österreichische Galerie nächst St. Stephan, die Arbeiten der 1950 in New York City geborenen Künstlerin Alice Attie präsentierte. Die Literaturwissenschaftlerin kam spät – und vor allem über die Lyrik – zur bildenden Kunst. 2016–2017 erhielt sie das renommierte Stipendium der Pollock Krasner Foundation. In ihren Tuschezeichnungen befasst sich Alice Attie mit dem Minimalen und erforscht das Terrain von Schreiben und Zeichnen sowie den Bereich, wo beide sich überschneiden, was man bei der von der Galerie auf der Artissima gezeigten Auswahl besonders augenscheinlich wurde.

Auffallend bei der diesjährigen Artissima ist die Vielzahl an kuratierten Sektoren... (...)

Silvie Aigner

Viele der Galerien in diesem Sektor zeigten Kunst einer älteren bis mittleren Generation, darunter Zeichnungen von Tony Cragg (Tucci Russo/Turin) Arbeiten von Raymond Pettibon (In Arco/Turin) ebenso wie Architekturzeichnungen von Thomas Schütte (Produzentengalerie/Hamburg). Auffallend ist, dass der Begriff „Disegni“ grundsätzlich sehr traditionell ausgelegt wurde – Arbeiten auf Papier und keine Arbeiten mit Papier, wenngleich auch mit interessanten Positionen, wie etwa bei Philipp von Rosen, Köln der gemeinsam mit Gentili, Florenz den spanischen Künstler Ignazio Uriate präsentierte.

Nicht die „Young Generation“, sondern der 1947 in Mosambik geborene portugiesische Künstler Carlos Nogueira zeigt Objekte und Skulpturales aus Papier und Mischtechniken bei Galerie 3 + 1 aus Lissabon und mischt damit den Sektor „Disegni“ auf, in dem man überraschend eher im Bereich der älteren Generation Qualitätvolles findet und so doch ein wenig mehr „Experimentelles“ erwartet hätte.

Alice Attie, Kafka, 2018, gouache, ink on paper, 51 x 36 cm |  Courtesy Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder | Foto: Markus Wörgötter

Alice Attie, Kafka, 2018, gouache, ink on paper, 51 x 36 cm |  Courtesy Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder | Foto: Markus Wörgötter

 


Back to the Future

„Back to the Future" ist ganz dieser Generation gewidmet und stellt Wiederentdeckungen vergessener oder übersehener Künstler seit den 1970er-Jahren vor, wie unter anderen den in 1924 in Lima, Peru geborenen Künstler und Literaten Jorge Eielson, bei Il Chiostro, Saronno. Der 2006 in Mailand verstorbene Künstler kam 1948 nach Europa und gehörte in den 1950er Jahren zum Kreis von Künstlern wie Raymond Hains, der Pariser MADI Gruppe und später in Rom zu Alberto Burri, Mimmo Rotella und Cy Twombly. Mit seiner Serie der “Quipus” Bilder entwickelte er eine prägnante singuläre Formensprache, die in Sammlerkreisen wieder zunehmend Interesse findet.


Present Future Sektion

Was in Zukunft reüssieren wird zeigen die Galerien in der Sektion „Present Future“. Kuratiert wurde dieser Bereichvon der römischen Kuratorin Cloé Perrone gemeinsam mit Myriam Ben Salah aus Paris und Juan Canela aus Barcelona. Das Format hätte auch ein weniger besser präsentiert werden können, stellen doch die emerging artists einen gewissen Fokus der Artissima dar. Hervorstechend waren hier vor allem die Wiener Galerie Ermes-Ermes mit der Präsentation von Diego Marcon. Der italienische Künstler (*1985) lebt und arbeitet in Mailand und gewann Ende Oktober den MAXXI BVLGARI Prize für sein Video „Ludwig“ – ein Preis der im Speziellen an junge Künstler vergeben wird, die in diesem Jahr die Kunstszene mit neuen innovativen Arbeiten bereichert haben sowie Pedro Neves Marques bei Galerie Laveronica aus Modica, Sizilien.

 


Dialoge

Im Sektor „Dialoge“, präsentieren Galerien ein bis zwei bzw. maximal drei Positionen, die jedoch auch miteinander, wie der Name schon sagt, korrespondieren sollen. Eine Möglichkeit, so Ilaria Bonacossa, den Galerien auch einen Art Fahrplan in die Hand zu geben und zu verhindern, dass ein gesamtes Portfolio am Stand die Grenzen des Möglichen sprengt und qualitätsvolle Standgestaltungen zu forcieren. Hier punktet Doris Ghetta aus Bozen mit der Einzelpräsentation der Turiner Künstlerin Sara Enrico (*1979) und die Mailänder Galerie Ribot mit Arbeiten des Berliner Künstlers Marco Reichert (*1979) sowie Monica Carocci mit aktuellen Fotoarbeiten bei Francesca Antonini, Rom und Bendana I Pinel aus Paris mit der chilenischen Künstlerin Francisca Aninat (*1979) Monica Carocci, geboren 1966 in Rom, lebt und arbeitet in Turin. Auf der Messe präsentierte sie Arbeiten, die während ihrer Artist in Residency im Rahmen des Cute Projektes in Uganda entstanden sind.

 


Main Sektor

Im Main Sektor sind uns unterdessen aufgefallen: Alex Hartley bei Victoria Miro, Paul Gees bei Loom, Mailand, Carlos Aires bei Ani Molnar Budapest, Vincenzo Agnetti bei Galerie Mazzoleni, Ettore Spaletti und Bethan Huws, bei Galleria Vistamare, Jarosław Kozłowski, bei Zak I Branicka, eine schöne Arbeit von Oscar Murillo bei Bortolozzi sowie die österreichischen Galerien Silvia Steinek mit Fotoarbeiten der Biennale-Vertreterin 2019 Renate Bertlmann und Matthias Herrmann sowie Arbeiten von Tony Oursler unter dem Titel „Strange Love“.

Ebenfalls Fotoarbeiten zeigte die Galerie Hubert Winter von den Klassikern Gina Pane, Francesca Woodmann, Birgit Jürgenssen hin bis zu Arbeiten der jungen Fotokünstlerin Tina Lechner. Ebenso brachte Winter Werke von Nil Yalter nach Turin, die er vor kurzem in der Wiener Galerie in einer Einzelausstellung zeigte. Eine Entdeckung waren die Arbeiten des 1977 in Madagaskar geborenen Joël Andrianomearisoa, der sowohl bei Sabrina Amrani, Madrid und bei Primo Marella, Mailand vertreten war und im kommenden Jahr den ersten Pavillon Madagaskars in Venedig bespielen wird. Auch João Vasco Paivas Objekte, gezeigt von der Edouard Malingue Gallery aus Hongkong, waren ein persönlicher Favorit.


Artissima Sound

Eine neue Sektion wurde in diesem Jahr mit Artissima Sound, in der sensationellen Architektur des OGR, außerhalb des Messegeländes, etabliert. Im ehemaligen Industriekomplex OGR – Officine Grandi Riparazioni, wo einst Eisenbahnen repariert wurden, ist nach aufwendigem Umbau ein ambitioniertes Kulturzentrum entstanden, in dem fünfzehn Klangprojekte zu sehen waren, darunter Susan Philipsz' „War damaged musical instruments“ von 2017, ein dissonantes und ergreifendes Musikstück, intoniert auf kriegsbeschädigten Instrumenten oder Daniel Gustav Cramers Ton-Installation „Coasts“, die das Meer nach Turin bringt, indem der Künstler Aufnahmen vom Meeresrauschen in Island, Japan, Kalifornien und Italien intoniert. Den Preis für die beste Soundarbeit erhielt die Arbeit von Tomás Saraceno „Radio Galena“ (2018), präsentiert von Pinksummer, Genf.

Birgit Jürgenssen, Jeder hat seine eigene Ansicht, 1975/2006, black and white photograph, 40x30 cm | Courtesy Estate Birgit Jürgenssen and Galerie Hubert Winter, Vienna

Birgit Jürgenssen, Jeder hat seine eigene Ansicht, 1975/2006, black and white photograph, 40x30 cm | Courtesy Estate Birgit Jürgenssen and Galerie Hubert Winter, Vienna


Awards – Preisregen auf der Artissima 2018

 

Die Sektionen und kuratierten Projekte sind ebenso vielfältig wie sie auch durch externe Sponsoren mit zahlreichen Preisen verbunden sind. Die Jurien bestehen jeweils aus internationalen Kuratoren und Museumsfachleuten. Den OGR Award ist der Preis der Fondazione per l’Arte Moderna e Contemporanea CRT und verbunden mit einem Ankauf. Der Sardi per l’Arte Back to the Future Preis wird von der Fondazione Sardi per l’Arte für die Galerie mit der interessantesten und historisch wichtigsten Präsentation vergeben und ging 2018 an Rolf Julius und Ruth Wolf-Rehfeldt, repräsentiert von Thomas Bernard-Cortex Athletico, Paris und ChertLüdde, Berlin.

Zwei Preise sind der jungen Kunst gewidmet: der illy Art Preis für die Sektion Present Future und der Campari Art Preis, der ebenfalls einen Künstler oder eine Künstlerin unter 35 auszeichnet und aus allen acht Sektoren der Messe auswählt. Letzterer ging dieses Jahr an Rodrigo Hernández präsentiert von Galerie Madragoa Lissabon. Bereits zum 18. Mal prämiert illy einen aufstrebenden Künstler aus Messesektion „Present Future“ der anschließend eine Präsentation im Castello di Rivoli Museum für zeitgenössische Kunst erhält. Unter anderem wurden bereits Jeremy Deller, David Maljkovic, Rachel Rose und Tobias Putrih von der wechselnden internationalen Jury prämiert. Der diesjährige illy Present Future Prize ging an den in Lissabon geborenen Pedro Neves Marques.

Pedro Neves Marques, Learning to Live with the enemy, 2017, exhibition view at Museu Coleção Berardo, Lisbon, curated by Pedro Lapa | Courtesy the artist and Galleria Umberto Di Marino, Napoli

Pedro Neves Marques, Learning to Live with the enemy, 2017, exhibition view at Museu Coleção Berardo, Lisbon, curated by Pedro Lapa | Courtesy the artist and Galleria Umberto Di Marino, Napoli


Pedro Neves Marques

Der Schriftsteller, bildende Künstler und Filmemacher wurde von der Neapolitaner Galerie Umberto Di Marino eingeladen und überzeugte mit einer multimedialen Arbeit. Der Künstler, der heute in New York lebt, verarbeitet darin seine Eindrücke, die er bei einem Aufenthalt in Brasilien während der Zikavirus-Epidemie gewann. Pedro Neves Marques hat nämlich beobachtet, dass es stets die männlichen Stechmücken sind, die als Virus Überträger fungieren und somit das weitere Schicksal einer Familie entscheiden. Mit berührenden Gedichten, zwei Videoarbeiten und Fotografien nähert sich Marques daraufhin nicht nur Fragen von ökologischer und biologischer Ausbeutung, dem Grad zwischen Natur und Künstlichkeit, sondern thematisiert auch Gender Probleme sowie den Topos der „toxic masculinity“. Dabei evaluiert er unsere Sprachlichkeit und regt zu Neudefinitionen an die unsere Welt besser strukturieren könnten.

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