Matthias Dornfeld »Crème brûlée« | Soy Capitán

Crème brûlée

Soy Capitán, Prinzessinnenstr. 29, 10969 Berlin-Kreuzberg

Beteiligte Künstler_innen: Matthias Dornfeld

Titel: Crème brûlée

Datum: 11. September 2020 bis 24. Oktober 2020

Ausstellungstext

2020 war ein Jahr polarisierender Propaganda, falscher Wahrheiten und neu erwachender, extremistischer Tendenzen. Es war ein Jahr der schwarzen Quadrate auf Instagram – einer digitalen Spielart des Ikonoklasmus, unangenehm gepaart mit der Selbstdarstellungstendenz der Sozialmedien. Die Sache ist die: Wir glauben nur, was wir sehen – und wir tendieren (heute mehr denn je, seit Filterblasen Suchergebnisse für uns vorselektieren) nur noch zu sehen, was wir glauben. Das menschliche Sehen ist immer schon von Vorurteilen durchtränkt. Auf einer noch grundlegenderen, evolutionsbiologischen Ebene ist das ‚Wiedererkennen‘ ein menschlicher Reflex, der sich nicht so leicht aushebeln lässt.

Vor etwa hundert Jahren trat Abstraktion als eine revolutionäre Errungenschaft der Avantgarde auf den Plan: Das Medium Malerei wurde autonom und eine neue Art des Sehens möglich. Man denke an Malevichs Kompositionen mit Quadraten und Kreisen – universale Formen, die er als Protagonisten in einem kosmischen Theater verstand. Oder an Hilma Af Klints spirituelle Visionen, die sie nach Instruktionen eines guten Geistes gemalt haben will. In der Nachkriegszeit dann der Siegeszug der Abstraktion, welcher den Ton für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte: Metaphysisch vibrierende Colour Fields von Künstlern wie Newman und Rothko; die vertikalen Streifen Daniel Burens (ein wahrer Selbstvermarktungs-Coup)… Die Ahnenreihe der abstrakten Malerei liest sich wie eine Meistererzählung. Und um ebendiese geht es hier nicht. Was Matthias Dornfeld angeht, werden wir ohne konzeptuelle Gerüste oder Transzendenz-Versprechen auskommen müssen.

Dornfelds Abstraktionen mögen auf den ersten Blick ungeschlacht daherkommen, doch vermag das kaum über ihr wohlwollendes Gemüt hinwegzutäuschen. Zunächst eine Bestandsaufnahme: Streifen und Rechtecke, welche die Grenzen der Leinwand ins Bild hineinholen, legen nahe, dass es hier um eine Befragung des Mediums und der Grundlagen menschlichen Sehens geht. Lockere Rasterstrukturen formen Netze, in denen sich unser Blick verfängt, bevor er durch sie hindurchsickert. Abstraktion ist Visualität ohne Erkennen. Aber gelingt das jemals? Bedarf es doch so wenig, um eines dieser staksigen, hohlen Vierecke (zum Beispiel) als einen Zuckerwürfel zu sehen, der kurz davor ist in einem Glas Erdbeersirup zu verschwinden. Ein anderes Bild liest sich wie die Wege-Karte einer Kellnerin um die Tische eines Biergartens. Natürlich: keine dieser Lesweisen ist ‚korrekt‘ – aber deshalb sind sie nicht gleich falsch. Sie verstehen sich einfach als ‚nichtexklusiv‘, insofern als diese Bilder nach Resonanzen in uns suchen. Was gibt es schon zu verlieren, wenn nicht festgefahrene Vorurteile – zugunsten eines reflektierteren, freieren Blicks?

Machine Vision gehört heute zu den Speerspitzen der Künstlichen Intelligenz. Nicht zuletzt daher sind die CAPTCHA-Tests, die wir aus dem Internet kennen (Completely Automated Public Turing Test to tell Computers and Humans Apart), in den vergangenen Jahren um einiges schwieriger geworden. Machine Vision operiert mit Mustererkennung. Matthias Dornfelds kecke Abstraktionen hingegen laden uns dazu ein, eine andere menschliche Kompetenz zu üben: Widersprüche und offene Antworten zu tolerieren. Unserem Urteilsreflex eine Pause zu geben. Ich bin kein Roboter •