»Ein Pfund Orangen« im Kunstverein Ingolstadt

Ein Pfund Orangen, 2019, Ausstellungsansicht, Kunstverein Ingolstadt

Kunstverein Ingolstadt

Galerie im Stadttheater
Schlosslände 1
85049 Ingolstadt
Deutschland

KünstlerIn: Maximiliane Baumgartner, Herbert Fiedler, Marieluise Fleißer, Heike-Karin Föll, Stefan Fuchs, Karolin Meunier, Ariane Müller, Sophie Reinhold, Monika Rinck, Daniela Seel, Anne Speier, Jasmin Werner, Alex Wissel 

Titel: Ein Pfund Organgen

Datum: 28. Juni - 1. August 2019

Fotografie: Courtesy of artists and Kunstverein Ingolstadt | Fotos: Peter Wolff

Notiz: Kuratiert von Philipp Reitsam

Ausstellungstext:

Ein Pfund Orangen, in den 20er Jahren vermutlich noch etwas Exotischeres als heute, ist der kurzfristige Trost, Symbol für zumindest den Versuch eines selbstbestimmten Glücks eines namenloses „Mädchens“: Eine junge Frau, die eigenlich auf irgendeine wertschätzende Reaktion ihres (ehemaligen) Freundes hofft, der aber das Interesse an ihr verloren hat und das auch rücksichtslos zeigt, sie sich aber dann doch „gewalttätig wieder nah“ gebracht hat. Einen Mann, „einen Herrn“, glaubt diese junge Frau haben zu müssen zur Steigerung ihres Status, v.a. damit er ihre materiellen Wünsche erfüllt, die „vielen schönen Dinge“, um die sie und ihre Freundinnen, eigentlich eher Konkurrentinnen, kreisen. Ein anderes Ziel im Leben hat sie nie kennengelernt, und war immer „die unselbständige Person und mußte immer wen hinter sich haben“.

Ein Pfund Orangen: eine Metapher für den fehlgeschlagenen Versuch, sich das Leben mit einer Illusion zu verschönern oder auch nur erträglich zu machen und auf diese Weise Wertschätzung zu erfahren. Natürlich helfen die Orangen und alle anderen materiellen Wunschträume nicht gegen die Depression der jungen Frau und natürlich kann der in der Geschichte gar nicht wirklich als Persönlichkeit erkennbare Mann (so groß ist seine Gleichgültigkeit und die Distanz zwischen ihm und seiner „Freundin“) und ihre toxische (materielle und emotionale) Abhängigkeit ihm gegenüber nicht die Lösung sein für ihr unausgesprochenes Gefühl des Kleingehaltenwerdens und Eingesperrtseins in einem gesellschaftlichen, ökonomischen und zwischenmenschlichen System, das die Frau als Person nicht ernst nimmt, das sie abrichtet und demütigt. Daraus auszubrechen ist der finale Wunsch der Hauptperson. Sie erkennt ihre festgefahrene Lage, weiß aber keinen anderen Ausweg daraus als den Suizid: „So würde das immer mit ihr weiterlaufen, sie müßte sich denn gewaltsam entziehn. Da ging ihr Blick im Hinsehen groß auf und daß sie sich aus Freiem wegbringen konnte aus einer Welt, wo nicht anders nach ihr gefragt war, wie eben nach einem kleinen geduldigen Mädchen, das war doch einmal ein Gedanke. Sie sah sich selber noch vor sich stehn in einem Glanz. Jede Art dazu müßte ihr gleich sein und am wenigsten weit mußte sie gehen, wenn sie aus dem Fenster sprang.“

Diese Frau, die selbst vorm Suizid noch daran denkt, dass sie dabei ein Foto ihres Geliebten in der Hand halten müsste („Vielleicht würde ihm dieser Umstand das Wahre sagen.“) sehnt sich uneingestanden doch eigentlich danach, gesehen zu werden, so wie sie wirklich ist (und nicht immer nur fremdbestimmt den Erwartungen anderer entsprechen zu müssen), und gehört zu werden mit dem, was sie wirklich empfindet (und echte Empfindungen überhaupt erst einmal entwickeln zu dürfen ohne gleich zur Konformität gezwungenzu werden). Von ihr und ihrem Scheitern in einer Welt, die echte Kommunikation, v.a. zwischen Männern und Frauen, nicht zulässt, sondern festgefügten Mustern und starren, zwar sinnlosen, aber unhinterfragbaren Ritualen, unterordnet, die Frauen systematisch zum fügsamen Objekt machen, erzählt Marieluise Fleißer in einer radikal subjektiven, dem Bewusstsein der Protagonistin nachempfundenen Sprache, gleichzeitig bodenständig-konkret und homerisch-körperlich, die uns Leser in die Gedankenwelt der Hauptperson samt ihrer Widersprüche und Sackgassen hineinzieht und uns deren subjektive Ausweglosigkeit unmittelbar nachvollziehen lässt.

Auf diese Weise erfahren wir viel erschütternder und nachhaltiger als durch explizite Reflexion und argumentativ überzeugende Erklärungen, in welchen Ideologien und Automatismen sie gefangen ist und können und müssen uns unsere eigenen Gedanken machen, ob wir heute, im Zeitalter von (theoretischer) Gleichberechtigung, Tinder, Instagram und „Me-Too“-Debatte und spätkapitalistisch-neoliberaler, individueller „Freiheit“ und alle Lebensbereiche durchdringender Ökonomisierung und Konkurrenzdenken auch in privaten Beziehungen auf einem anderen, reiferen Level agieren als die Menschen vor neunzig Jahren.