Isa Rosenberger

Isa Rosenberger, Loulou Omer tanzt auf der Bühne der VHS Ottakring, 2019. Foto: Reinhard Mayr.

Camera Austria

Lendkai 1, 8020 Graz
Österreich

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Dienstag bis Sonntag 10 - 17 Uhr

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Eröffnung: 13. März 2020, 18 Uhr


Im Mai 2019 produzierte Isa Rosenberger eine Fotoserie, die die Künstlerin und Tänzerin Loulou Omer beim Tanzen, Singen und Klavierspielen zeigte und gleichzeitig auf das einging, was Omer auf der Theaterbühne des Volksheim Ottakring (die heutige Volkshochschule Ottakring) performte. Die Serie fing nicht nur Momente spontaner Kreativität ein; in das Stück hatten wesentliche Aspekte von Rosenbergers umfassender künstlerischer Forschung Eingang gefunden. So zeigte sich in diesen Momenten die körperliche Erfahrung als politisches Medium durch einen interdisziplinären künstlerischen Ansatz, dessen Ursprünge sich auf die Methoden von Gertrud Kraus zurückführen lassen. Kraus war eine in Wien geborene expressionistische und moderne Tänzerin, Choreografin und Lehrerin1 und leitete, zunächst in Wien und später – nach ihrer Flucht vor dem NS-Regime im Jahr 1935 – in Tel Aviv sowohl eine Tanzkompanie als auch eine Schule.2 In den Jahren 1950 bis 1951 gründete sie das Israel Ballett Theatre und war erste Leiterin der Abteilung Tanz der Rubin Academy of Music in Jerusalem (heute Jerusalem Academy of Music and Dance).3 Die Dynamik, mit der sowohl die Körpererfahrung als auch Bewegung spontan in der Performance organisiert, strukturiert und ausgeführt wurden, lassen sich auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der gegebenen politischen, sozialen, kulturellen, pädagogischen und psychologischen Umstände zurückführen. Dabei war die tatsächliche Performance Omers in diesem Zusammenhang gleichzeitig auch eine Herausforderung – eine Ode an Kraus, an das Erbe und die Erzählung ihrer persönlichen Geschichte; an ihren Versuch, unterschiedliche Identitäten zu rekonstruieren und sie in einer neuen Umgebung miteinander in Kontakt zu bringen; und an ihren künstlerischen Zugang als eine Form des Widerstands und eine Möglichkeit des Ausdrucks.

Rosenbergers Arbeit beschäftigt sich mit diesem Erbe in Form einer Neukontextualisierung, der Herausforderung und Befragung der Geschichte im Kontext der gegenwärtigen Realitäten. Dabei macht ihr kritisches Vorgehen unterschiedliche Gesichtspunkte und Aspekte sichtbar, indem sie auch die zum Schweigen gebrachten, unterdrückten, verlorenen und vergessenen Geschichten zum Ausdruck bringt. Ihre Praxis – und auch ihre künstlerische Stärke – basiert auf miteinander verwobenen persönlichen Erzählungen und historischen Erkenntnissen, wobei sie gleichzeitig diskursive, feministisch geprägte Räume zur Artikulation drängender sozialer Fragen schafft. So trifft sich ihr soziales Engagement mit Kraus’ künstlerischem Ansatz. Die Autorin und Wissenschaftlerin Henia Rottenberg schrieb: »ihre Arbeiten waren von der Suche nach einer Selbstdarstellung geprägt, die mit einem starkem sozialen Bewusstsein und Humanismus aufgeladen war, und entstanden aus ihrer tiefen persönlichen Identifikation mit dem Kampf um soziale Gerechtigkeit.«4

Im Zuge ihrer Forschung entdeckte Rosenberger, dass die Theaterbühne des Volksheim Ottakring im Jahr 1934 Kraus’ »Die Stadt wartet« (1933) zeigte, ein Tanzspiel auf der Grundlage von Maxim Gorkis Märchen »Musik der Großstadt«. Die Arbeit setzt sich aus einer Einführung und neun, von Marcel Rubin komponierten und durch Worte von Elias Canetti verbundenen Musikstücken zusammen: »Der Knabe auf dem Weg in die Stadt«, »Chor der leidenden Stadt«, »Dämmerung«, »Erleuchtung«, »Amüsement«, »Die unvollendete Stadt«, »Der Traum vom Glück«, »Der Knabe unter den Menschen« und »Erwartung«. Ihre Choreografie reflektierte die Reise eines Jugendlichen in die Stadt, seine Angst und Faszination beim Entdecken und Erleben einer Großstadt. Gertrud Kraus selbst tanzte die Rolle des Jungen. Kraus’ Arbeit war eine entscheidende Inspiration für Rosenberger, sprach sie doch mit einem klar politischen Ansatz über Identität – nicht nur, weil sie sich dem Druck ihrer jüdischen Identität widersetzte, sondern auch aufgrund des Selbstverständnisses, mit dem sie geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten thematisierte. Deshalb stellt es für Rosenberger eine fruchtbare Form der Resonanz dar, Kraus’ Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven erneut aufzugreifen und zu erkunden. Es existiert – nach jetzigem Stand – allerdings kein einziges Foto der Aufführung von »Die Stadt wartet« im Volksheim Ottakring. Rosenbergers Projekt versteht sich insofern als Versuch einer Annäherung an diese Leerstelle. Zwei in der Ausstellung präsentierte Dokumentarfilme, die Rosenberger mit den Tanzhistorikerinnen Andrea Amort in Wien und Ruth Eshel in Tel Aviv über Kraus entwickelte, gehen auf diese Aspekte näher ein.

Parallel dazu forschte Rosenberger auch zu Volkshochschulen und ihrem Bedeutungswandel im Laufe eines Jahrhunderts. So war das 1901 gegründete Volksheim Ottakring in Wien, auf dessen Bühne Kraus auftrat, vor allem in der Zwischenkriegszeit von entscheidender kultureller und politischer Bedeutung. In den Archiven des Volksheims wird die Gründungsidee mit folgenden Worten beschrieben: »Arbeiter, Bürger und Hochschullehrer gründeten den Verein Volksheim als eine Stätte höherer wissenschaftlicher Ausbildung und reichen künstlerischen Genusses für die breiten Schichten des werktätigen Volkes«5 mit dem Anliegen, »Menschen ›denken zu lehren‹«.6 Bedeutende Protagonist*innen der Wiener Moderne – wie Ernst Mach, Adolf Loos, Josef Hoffmann, Marianne Hainisch, Elise Richter, Lise Meitner, Eugenie Schwarzwald, Otto Neurath, Alfred Adler, Robert Musil, Hermann Broch, Jean Améry, aber auch Tänzerinnen wie Rosalia Chladek oder Gertrud Kraus – hielten Vorträge, gaben Kurse oder tanzten und spielten auf der Bühne der Volkshochschule Ottakring.7 Die Bühne, auf der Kraus einst tanzte, gibt es heute noch.

Ausgehend von Gertrud Kraus’ Tanzspiel »Die Stadt wartet« greift Rosenberger die vergessene Sozialreformgeschichte der Volkshochschule Ottakring auf und betreibt auf Kraus’ Spuren hin eine Rekontextualisierung. Das Projekt öffnet den Tanz als einen spezifischen poetischen Raum, der verschiedene Kunstformen, Zeiten und Bilder miteinander verschränkt und neu verbindet. Im Sinne von Kraus’ interdisziplinärer Arbeitsmethode hat Rosenberger auch eine Reihe von Workshops mit jungen Migrant*innen organisiert, die zur Zeit die Volkshochschule Ottakring besuchen. Sowohl die Workshops als auch Rosenbergers umfassende Forschung zu Gertrud Kraus in Wien und Tel Aviv spiegeln eine Auseinandersetzung mit jenen räumlichen Bewegungen und migrierten Gedanken wider, die Spiralen gleich durch mehrere Länder führen: beispielsweise die Migration des Ausdruckstanzes von Österreich nach Palästina,8 oder die Migrationsrouten der Workshopteilnehmer*innen aus dem Nahen Osten und aus Afrika nach Österreich. Kraus kombinierte in ihren Proben und Klassen zum Beispiel die Sprachen Deutsch, Englisch und Hebräisch, was ihre eigene Migrationserfahrung reflektierte und als »multilinguales Lexikon«9 beschrieben wurde. Daran anknüpfend bat Rosenberger die Workshopteilnehmer*innen,10 die in ihrer Kommunikation ebenfalls mehrere Sprachen vermischen, sich selbst und ihre Migrationserfahrung durch das Erzählen von Geschichten, Tanz, Gesang und Zeichnungen mitzuteilen. So hat der interdisziplinäre Zugang von Kraus durch das Zusammenspiel von verschiedenen Erfahrungen, Gefühlen und Hoffnungen und in unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen quer durch geografische Räume, Menschen und Zeiten in Rosenbergers Workshops einen Widerhall gefunden.11

Für das abschließende Kapitel ihres Projektes arbeitete Rosenberger mit Loulou Omer zusammen, deren Mutter, Zipora Lerman, in Tel Aviv bei Gertrud Kraus studiert hatte. Diese Zusammenarbeit mündete in eine Videoarbeit und eine fotografische Serie, die alle genannten Elemente von Rosenbergers Forschung miteinander verknüpft. Das Video ist das Endergebnis einer sich kontinuierlich ausweitenden Arbeit und reflektiert dabei einen zweijährigen Prozess künstlerischer Forschung und Praxis.

Omer ist Tänzerin, Choreografin, Komponistin, Lyrikerin und Pianistin. Ihre Praxis umspannt – ähnlich der von Kraus – viele Kunstformen und Methoden. Ihre Migration hingegen führte sie von Tel Aviv nach Europa; nach Wien hat sie allerdings nicht nur Erinnerungen mitgebracht, sondern auch ein Wissen über die vielseitigen künstlerischen Ansätze ihrer Mutter. Omers Zusammenarbeit mit Rosenberger spiegelt daher auch die Relevanz der Weitergabe dieses Wissens von der Mutter an die Tochter wider.

Rosenberger hat die Bühne des Volksheim Ottakring als Omers Eintrittsort in ihre Performance gewählt. Die Performance und das Video ergänzte sie noch mit Fotografien von Lerman sowie mit Bild- und Textdokumenten. Das Video basiert auf Omers Gedanken über das Choreografieren, Singen und Tanzen und auf ihrem Wissen über die Performances ihrer Mutter und von Kraus, und macht dabei Rosenbergers Forschung sichtbar. In Anlehnung an Kraus setzte Omer ebenfalls zwei Sprachen ein, und demonstrierte eine Reihe von Techniken und Improvisationen. Sie porträtierte eine starke und tiefsinnige Frau und arbeitete die Komplexitäten und Widersprüche in der Arbeit von Kraus, ihrer Mutter und ihr selbst heraus. Jeder aufgeführte Akt, jedes gesprochene Wort, jede gespielte Note und jede Erinnerung, die sie wachrief, ließ Omers Welt bildhafter werden. In ihrer Reaktion auf Kraus’ Überlieferung, ein Weg der Migration, der sich dem Suchen, der Empfindsamkeit und dem Wachstum verschreibt, lädt Rosenberger die Betrachter*innen durch eine Begegnung mit der Welt Omers auf diesen Weg ein. Kraus hat einmal in ihrem Skizzenbuch folgende Zeile niedergeschrieben: »Was ist der Eingangsort? […] Der Ort, an dem es kein Zurück mehr gibt.«12

Başak Şenova

1 Judith Brin Ingber, »Identity Peddlers and the Influence of Gertrud Kraus«, in: Congress on Research in Dance Conference Proceedings 39, Beilage S1 (2007), S. 100–101.
2 Ebd., S. 100.
3 Wikipedia, »Dance in Israel«, https://en.wikipedia.org/wiki/Dance_in_Israel.
4 Henia Rottenberg, »Kraus, Gertrud (1901 – 1977)«, The Routledge Encyclope-
dia of Modernism, https://www.rem.routledge.com/articles/kraus-gertrud-
1901-1977.
5 Österreichisches Volkshochschularchiv, »Rundgang durch das Volksheim Ottakring«, http://archiv.vhs.at/index.php?id=vhsarchiv-volksheim_ottakring.
6 »Volkshochschule Volksheim Ottakring«, Historiografie, https://adulteducation.at/de/historiografie/institutionen/278/.
7 Arbeitsgemeinschaft für Heimatkunde in Ottakring (Hg.), Ottakring: Ein Heimatbuch des 16. Wiener Gemeindebezirkes, Wien: Österreichischer Schulbücherverlag 1924, S. 277.
8 Kraus zog nach Palästina, bevor der Staat Israel gegründet wurde.
9 Ingber, »Identity Peddlers and the Influence of Gertrud Kraus«, S. 103.
10 Teilnehmende des Workshops: Wendpanga Marie Balbone, Karolin Kahraman, Ilie Vlah, Albin Bunjaku, Alzuabi Loai, Abib Faye und Javed Sobhani.
11 Im Jahr 2019 zeigte Rosenberger einige Elemente des Projekts im Rahmen ihrer
Teilnahme an der interdisziplinären CrossSections Plattform: Fotos, Videos, Archivmaterial, Workshopergebnisse, Skizzen und Performances, vgl. https://crosssections.kex.wuk.at.
12 Zvi Gotheiner sprach in einem Interview im Jahr 2007 mit Judith Brin Ingber darüber, wie er Gertrud Kraus’ Skizzenbuch als Quelle für sein Stück nutzte.
Ingber, »Identity Peddlers and the Influence of Gertrud Kraus«, S. 103.

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