Außer Kontrolle | esc medien kunst labor

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Out of Control?!

„Die [Kunst] stellt eine Suchbewegung dar. Sie ist ein Versuch, Halt und Richtung zu gewinnen. Dabei stößt sie auch ins Unbekannte, ins Unbegangene, ins Offene, ins Noch-Nicht-Seiende vor, indem sie über das Gewesene, über das bereits Seiende hinausgreift. Sie hält auf das Ungeborene zu. Sie macht sich auf zum Neuen, zum ganz Anderen, zum nie Dagewesenen.“ [Byung-Chul Han]

Auf das scheinbare Außer-Kontrolle-Geraten-sein und die unbehagliche Polykrise unserer Zeit lässt sich auch mit einem gewissen Maß an Ambivalenztoleranz reagieren: d. h., mit der resilienten Fähigkeit, diffuse Unsicherheiten und gefühlte Bedrohungen, aber auch die Unwägbarkeiten und Zwiespältigkeiten einer Zeit seismografisch wahrzunehmen, sie analytisch aufzunehmen und kreativ umzuwandeln – nicht zuletzt, um am Ende emotional handlungsfähig und produktiv zu bleiben. Dies zeichnet gerade auch zeitgenössische KünstlerInnen aus, die sich den neuesten Technologien wie etwa der Künstlichen Intelligenz offen-neugierig, kritisch-reflektierend und kreativ-experimentierend zuwenden.

Die rasante Entwicklung von generativer und multimodaler KI wird beispielsweise heute gerne als kreative Konkurrenz phantasiert – präfiguriert durch unzählige Inszenierungen in der Populärkultur und dem Film, aber auch durch den Aufstieg malender und zeichnender Humanoiden in der Kunstwelt selbst. Gerät damit eine Domäne menschlicher Kreativität nun auch noch außer Kontrolle? Ambivalenztoleranz gegenüber einem gefühlten Kontrollverlust bezeichnet nun aber die besondere Fähigkeit, widersprüchliche Gefühle, Gedanken oder Ängste und Sorgen in einer Situation zu akzeptieren und konstruktiv wie kreativ damit umzugehen, ohne dass dies zu innerem Konflikt oder weiterem Unbehagen führt. Menschen mit hoher Ambivalenztoleranz können Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten oder widersprüchliche Perspektiven aushalten, ohne sofort eine klare Lösung oder Entscheidung zu liefern. Sie sind vielmehr in der Lage, schwierige und komplexe Situationen differenziert zu betrachten und multiple Sichtweisen gleichzeitig zu würdigen, was oft mit kritischem Denken, intellektueller Offenheit und kreativem Experimentieren einhergeht. Genau dies sind auch besondere Eigenschaften von KünstlerInnen, die sich heute forschend und experimentierend mit den neuesten Technologien einem neuen, nicht mehr allein menschenzentrierten Kreativitätsbegriff hinwenden und vielmehr in Netzwerken arbeiten und denken. In einer zunehmend komplexen und polarisierten Welt gewinnt diese Fähigkeit an Bedeutung, da sie in der Gesellschaft dazu beiträgt, Konflikte zu entschärfen und differenzierte Lösungen zu finden.

KünstlerInnen sind heute keine Genies mehr, sondern vielmehr VorreiterInnen und Vorbilder, wenn es darum geht, etwa mit Künstlicher Intelligenz, kritisch und reflektiert umzugehen oder nach einem fairen und ethisch verantwortungsvollen Umgang zu suchen. KI ist dabei – wiederum recht ambivalent – ihr Tool, ihre Muse und ihre AssistentIn oder ihr Kollaborateur und ko-kreativer Partner. Ihre ko-kreativen und ko-laborativen Werke eröffnen zugleich Fragen: Was bedeutet es, etwas zu erschaffen, wenn die Kontrolle nicht mehr allein (im doppelten Sinne) in der Hand der einzelnen Kunstschaffenden liegt, sondern nunmehr über ein Netzwerk menschlicher, nicht-menschlicher und mehr-als-menschlicher Kollaborateure verstreut ist, die gemeinsam kreativ handeln? Ist dieser Verlust an einzelner Kontrolle eine Kapitulation oder gar eine Befreiung und Bereicherung? Eine Krise oder ein Katalysator? Kreativität außer Kontrolle?

Der programmatische Titel Out of Control?! ist somit sowohl eine Frage als auch eine Provokation. Er verweist auf die doppelte Natur unseres vernetzten Zeitalters: das Versprechen kollektiver Intelligenz und die Gefahr unbeabsichtigter Folgen. In dem Maße, wie künstliche Intelligenz, generative Algorithmen und dezentralisierte smarte Systeme in den kreativen Prozess eindringen, stellen sie beispielsweise die traditionellen Vorstellungen von Urheberschaft und Autorschaft, Originalität und Bedeutung in Frage. Gleichzeitig ermöglichen es neue Technologien wie KI nie dagewesene Formen der kreativen Zusammenarbeit – zwischen Menschen und Maschinen, zwischen weit entfernten Gemeinschaften und zwischen lebenden biologischen und quasi-lebenden synthetischen Entitäten zu erproben. Viele interaktive KI-Arbeiten laden daher auch die Betrachtenden dazu ein, zu kreativ Mitgestaltenden zu werden, ihre Rolle im komplexen Netzwerk zu hinterfragen und neu zu definieren sowie sich mit der Handlungsfähigkeit und kreativen Eigensinnigkeit des Nicht-Menschlichen in unserer vernetzten Umwelt auseinanderzusetzen. Von intelligenten Algorithmen, die sich über die Absichten ihrer ProgrammiererInnen und EntwicklerInnen hinaus weiterentwickeln, bis hin zu Installationen und Skulpturen, die in Symbiose mit ihrer Umwelt oder lebenden Organismen wachsen, zeigen Positionen aktueller Medienkunst, dass auch Kreativität immer ein Prozess ist, der nie vollständig kontrolliert werden kann, aber immer generativ und innovativ ist, ohne dass man vorher schon sein Ziel (er)kennen könnte. Kunst braucht und schafft daher Freiräume für dynamisch-ergebnisoffenes Arbeiten. Fest steht jedoch, dass komplexe neue Netzwerke aus menschlichen, mehr-als-menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren auf überraschende Weise schöpferisch sind. Diese neuen kreativen Agenten– etwa die KI-Modelle – erinnern uns daran, dass Kreativität schon immer ein kollaborativer und kooperativer Akt, ein symbiotisch-evolutionärer Prozess gewesen ist, der das Menschliche übersteigt. Denken Sie etwa an das komplizierte Zusammenspiel vieler verschiedener Instrumente, das erst als Orchester mit einem Dirigenten emotional packende Musik aufführt.

Mit dem Aufstieg und der Ausbreitung der neuen Netzwerke mit ge- und verteilter Kreativität bleiben jedoch dringende Fragen: Wer oder was treibt den schöpferischen Prozess an? Können wir etwa den technologischen Systemen, die wir in Gang gesetzt haben, letztendlich vertrauen? Und was passiert, wenn die Ergebnisse unseren Erwartungen widersprechen–etwa nur Zufälliges und Generisches liefern, wie oftmals beim Prompten mit KI-Modellen?

Out of Control?! ist kein Wehklagen über verlorene Beherrschung oder Trauer über neue Zwiespälte, sondern eine affirmative Feier der kreativen Freiheit in der Gemeinschaft, des kreativen Potenzials des gemeinschaftlichen Netzwerks, das entsteht, wenn wir die Illusion der alleinigen wie totalen Kontrolle aufgeben. Sie fordert uns auf, das Unbekannte, Unerwartbare respektive Unverwertbare anzunehmen, Schönheit im Unvorhersehbaren zu entdecken und nicht zuletzt, unseren Platz in einer Welt neu zu definieren, in der die Kreativität nicht mehr nur uns Menschen allein gehört. Wenn Sie sich durch die Ausstellung bewegen, sind Sie keine passive Beobachtende, sondern lediglich ein Knotenpunkt in einem diversen Netzwerk aus unterschiedlichen, kreativ handelnden Agenten – aber auch eine Teilnehmende an einem unabgeschlossenen kreativen Prozess, der sich immer erst entfaltet und dabei immer etwas außer Kontrolle gerät, weil er letztlich auch aus dem Kunstraum hinaus in die Welt getragen werden soll.

Wir sind daher nicht resignativ, sondern resilient und vor allem offen und neugierig: Was bedeutet es, in einer Welt (künstlerisch) zu schaffen, in der Kontrolle geteilt, verteilt und manchmal sogar vollständig aufgegeben wird? Wenn das nicht mal eine spannende und anregende Ausgangssituation für das weitere Denken und Handeln ist: ‚out of control!‘

Pamela C. Scorzin

© esc medien kunst labor, tele-present wind, David Bowen

© esc medien kunst labor, tele-present wind, David Bowen

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