Venedig: Unsere Pavillon-Favoriten
Die Biennale di Venezia, eine der prestigeträchtigsten Kunstausstellungen der Welt, öffnete im April 2024 erneut ihre Tore und bringt Kunstliebhaber:innen aus aller Welt nach Venedig. Mit einer beeindruckenden Vielfalt an zeitgenössischen Kunstwerken und innovativen Installationen präsentieren sich zahlreiche Länder in ihren Pavillons. Wir haben uns die diesjährigen Beiträge genauer angesehen und stellen Ihnen unsere Favoriten vor, die Sie auf keinen Fall verpassen sollten.
Österreich
Nelken, Tulpen, Rosen, Orangen und Lotus – sie alle sind Symbole für vergangene Revolutionen. Anna Jermolaewa vermittelt in Venedig die Dringlichkeit weiterer Revolutionen und verbreitet zugleich ihre eigene Fluchtgeschichte aus der Sowjetunion nach Österreich. Bahnhofbänke, original Telefonzellen aus Traiskirchen werden zu authentischen Relikten Jermolaewas Flucht. Hinter ihr steht Gabriele Spindler als Kuratorin und neben ihr Oksana Serheieva. Die junge Ukrainerin tanzt durch den Pavillon zu Tschaikowskis „Schwanensee“ – sowohl als Live-Performance als auch auf einem Videoscreen. In ihrer Heimat, wo „Schwanensee“ in TV und Radio in Zeiten politischer Unruhen in Dauerschleife lief, hatte Serheieva eine Tanzschule. Auf der Flucht begegnete sie Jermolaewa, die ihr half, in Österreich anzukommen.
Anna Jermolaewas Installation verbinden individuelle Schicksale mit kollektiven Erfahrungen und politischem Engagement.
Polen
Gute Kunst braucht keine großen Inszenierungen, das beweist Polen. Nur zwei Videowände und ein paar Mikrophone stellt das Kollektiv Open Group in seinen Pavillon. Sie wurden ultrakurzfristig berufen, den Pavillon zu gestalten, nachdem die polnische Regierung von der ursprünglich geplanten Präsentation von Ignacy Czwartos – dessen malerisch ausgedrückter konservativer Blick auf die Geschichte für Kontroversen sorgt – Abstand genommen hatte. Die nun gezeigte partizipative Videoarbeit „Repeat After Me II“, kuratiert von Marta Czyż, zeigt Interviews mit Zeugen des Ukraine-Kriegs. Sie wurden gebeten, die akustische Dimension der Gewalt widerzugeben. So summen und lautmalen sie Schüsse, Raketen und Explosionen, die tief berühren. Die Besucher sind eingeladen, einzustimmen und die Geräusche zu wiederholen.
Saudi-Arabien
Noch bis 2017 war es Frauen im saudischen Staatsfernsehen verboten, als Sängerinnen aufzutreten. In Venedig wird ihnen nun eine Stimme verliehen und ein Kampflied aufgelegt. Manal AlDowayan lud 1.000 Frauen ein, an Gesangsworkshops teilzunehmen und gemeinsam die präsentierte Arbeit „Shifting Sands: A Battle Song“ zu entwickeln. Kuratiert von Jessica Cerasi und Maya El Khalil wird der Pavillon mit überdimensionalen Blumen inszeniert, auf denen sich die Gesänge und Schriften der Frauen mit Nachrichtenmeldungen über saudische Frauen überlagern. Während Frieze den Beitrag zu einem der besten der Biennale kürte, schrieb die Berliner taz: „Wie ist das jetzt zu deuten? Lassen die Saudis in Venedig das zaghafte Mundaufmachen einer Gesellschaft zu, die vielleicht gerade einen freiheitlichen Wandel erfährt? Oder ist das nur Imagepolitik?“
Usbekistan
„Don’t miss the cue“, frei übersetzt „Verpass nicht deinen Einsatz“, lautet der Titel des Projektes von Aziza Kadyri, kuratiert vom Centre for Contemporary Art Tashkent. Passenderweise finden sich die Besucher am Ende des Ausstellungsparcours auf einer Bühne wieder und wissen vielleicht nicht, wohin mit sich selbst. Die theatralische Kulisse wird durch Objekte inspiriert von traditionellen Kostümen und Textilien und durch audiovisuelles Material von Qizlar Collective aktiviert. Bräuche vermengen sich mit Gegenwartsphänomenen. So werden etwa Konsumsymbole in traditionellen Stickereien verarbeitet, die in Frauengruppen entstanden sind.
Kroatien
Partizipativ, humorvoll, unberechenbar und titelgerecht (Stichwort „Stranieri Ovunque“). Vlatka Horvat lebt aktuell im Kroatischen Pavillon – einer sehenswerten, luftigen Architektur mit Innenhof in Cannaregio –, um dort täglich Pakete aus aller Welt entgegenzunehmen. Es sind Kunstwerke von Künstlern, die in der Diaspora leben und Menschen, die nach Venedig reisen, ein Kunstwerk mit auf den Weg geben. Diese persönliche Übergabe wird ebenso dokumentiert wie die Ankunft im Kroatischen Pavillon, wo die eingetroffenen Arbeiten eine nach der anderen im Wechsel ausgestellt werden. Jede Einreichung bekommt folglich eine Antwort von Vlatka Horvat gegenübergestellt, humoristische Collagen überziehen Postkartenansichten von Venedig. Sie werden vor Ort produziert und ebenfalls ausgestellt, ehe sie einzeln an die Diaspora-Künstler übermittelt werden. Ein lustvolles Tauschspiel mit tiefschürfenden Gedanken und mannigfaltiger Ästhetik – bei so viel Kunst ist für jeden etwas dabei.
Deutschland
Zeitlich betrachtet beschäftigen sich im deutschen Beitrag „Thresholds“ Ersan Mondtag mit der Vergangenheit, Yael Bartana mit der Zukunft und Michael Akstaller, Robert Lippok, Nicole L’Huillier und Jan St. Werner mit der Gegenwart. Von Letzteren vier kann man Soundarbeiten in der wilden Natur der Insel La Certosa jenseits der Giardini erleben. Die beiden im Pavillon ausgestellten Positionen behandeln das Thema Migration, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Wieder einmal wird deutlich, dass Kunst, die an den Grenzen der Disziplinen arbeitet, eindrückliche Spuren hinterlässt. Mondtag arbeitet als Regisseur mit großen Gesten und verschüttete das Portal mit Erde. Mit Referenz auf das Leben seines Großvaters, der 1968 als Gastarbeiter aus Anatolien nach Westberlin kam, präsentiert er ein begehbares Monument, das zugleich Theaterkulisse und Performancebühne ist. Unter Chorgesängen und während staubige Luft nach oben zieht, findet dort ein muslimisches Bestattungsritual statt. Bartana hingegen entwirft eine auf die Zukunft gerichtete Erlösungsvision in Anlehnung an die jüdische Kabbala-Lehre. Ihre Videoarbeit „Farewell“ zeigt eine Gruppe Menschen mit Tiermasken ekstatisch in einer Waldlichtung tanzen, die die Ankunft des im Nebenraum installierten Raumschiffs und damit die kollektive Heilung erwarten
Litauen
Eine aufgelassene Kirche, die seit Jahren leer steht, trifft auf Cyborgs aus Glas und Aluminium sowie Laserprojektionen, gepaart mit reizvoller Malerei einer Position des letzten Jahrhunderts. Litauen macht 2024 einiges richtig mit seiner Biennale-Präsentation, zu der man das umtriebige junge Künstler-Duo Pakui Hardware (Neringa Černiauskaitė und Ugnius Gelguda) gemeinsam mit Marija Terese Rožanskaitė (1933 –2007) einlud. Darüber hinaus zeichnen Petras Išora und Ona Lozuraitytė für die architektonische Gestaltung des einzigartigen Projektes verantwortlich, das von Valentinas Klimašauskas und João Laia kuratiert wurde.
"Inflammtion" thematisiert systemischen Schaden und Krankheiten auf unserem Planeten, mit sensorisch aufregenden Elementen wie Blutbahnen in Aluminiumgebilden und modifizierten Tonspuren der Diagnostik.
Großbritannien
John Akomfrahs (*1957 Accra, lebt in London) multimediale Installation „Listening All Night To The Rain“ führt seine Auseinandersetzung mit Postkolonialismus, Ökologie und die politische Dimension von Ästhetik fort. Eine Poesie, die über die Vergänglichkeit des Lebens in einer Zeit des politischen Exils meditiert, basierend auf Texten verschiedener Autoren und Philosophen wie Su Dongpo, Ezra Pound oder Gaston Bachelard. Wasser ist das zentrale Motiv, das die vielschichtigen visuellen und akustischen Erzählungen zusammenhält. Found Footage und Archivmaterial politischer Reden, Texte und Audioclips als dokumentierte geopolitische Geschichte werden mit imaginierten surrealen Bildern verknüpft – auch um die Position der Kunst hervorzuheben und ihre Wirkkraft in der Geschichte ebenso kritisch wie poetisch zu reflektieren und damit eine Verbindung zwischen geografischen und zeitlichen Räumen herzustellen.
USA
Jeffrey Gibsons (*1972 Colorado) Werk ist geprägt von seinem kulturellen Erbe der Choctaw-Cherokee-Kultur und seinen Bezügen zu Clubkultur, Queer-Theorie, Mode, Politik, Literatur und Kunstgeschichte. Die facettenreiche und farbenfrohe Praxis des Künstlers umfasst Malerei, Performance, Skulptur, Textilien und Video. Indigene Handwerkskunst – wie Perlenstickerei, Lederarbeiten und Quilts – verbindet er mit Erzählungen über den zeitgenössischen Widerstand anhand von Protestslogans und Liedtexten. Dabei streicht er auch den globalen Aspekt seiner Materialien heraus, denn, so Gibson: „Historisch gesehen kamen Perlen oft aus Italien, der Tschechischen Republik oder Polen, und die heutigen Perlen können auch aus Indien, China und Japan stammen. Metallnieten haben ebenfalls einen Bezug zum Handel und stammen ursprünglich vielleicht aus Spanien, haben aber auch moderne Bezüge zur Punk- und DIY-Kultur. Es ist ein ständiges Mash-up.“
Frankreich
Die Insel Martinique, von der die Familie des in 1986 in Paris geborenen afrokaribischen Künstlers stammt, ist Ausgangspunkt seines raumgreifenden Beitrags im Französischen Pavillon. Digitale Avatare und Wesen in wandumspannenden Videoscreens treffen in einem bunten Mix auf Drahtobjekte, die mit Garnen und Stoffen umwickelt sind. Duft strömt aus den Bronzebecken mit Lavendelsamen und ein ständiger Sound hüllt die Besucher ein. Ein Erlebnis für alle Sinne, verbunden mit der Mystik spiritueller Erzählungen.
Ägypten
Mit Wael Shawky (*1971 Alexandria) wählte Ägypten einen seiner international bekanntesten Künstler aus. „Drama 1882“ ist ein von ihm inszeniertes, choreografiertes und komponiertes Musiktheater über die nationalistische Urabi-Revolution in Ägypten, die von dem ägyptischen Oberst Ahmed Urabi und seiner Armee gegen den unter imperialen Einfluss stehenden ägyptischen Monarchen angeführt wurde (1879–82). Die Jahreszahl im Titel, 1882, markiert das Jahr, in dem der Aufstand von den Briten niedergeschlagen wurde, die Ägypten anschließend bis 1956 besetzten. Das Werk wird von professionellen Darstellern in klassischem Arabisch gesungen und ist mit englischen Untertiteln versehen. Eindrucksvoll lässt Shawky die Sänger in Szenen, die wie Gemälde wirken, agieren. Doch stets schwingt auch Shawkys kritischer Kommentar mit, denn letztlich hinterfragt er in „Drama 1882“ auch den Wahrheitsgehalt jeglicher Geschichtsschreibung.
Argentinien
In der Installation „Hope the Doors Collapse“ verschränkt Lamothe (*1975 Buenos Aires) verschiedene Materialien miteinander. Holz und Konstruktionselemente sind einerseits ein Ausloten der Möglichkeiten von Material, werden jedoch in ihrer Interpretation auch zur Metapher für die Beziehungsfähigkeit der Menschen. Jede der vier architektonischen Skulpturen wirkt daher nicht zufällig auch wie ein umhüllender und bewohnbarer Raum, der Schutz und Gefahr gleichzeitig sein kann. Die Einschnitte und Verdrehungen des Materials halten die Form und geben ihm sein ästhetisches Aussehen. Doch gleichzeitig sind sie auch ein Symbol für Wunden und Nähte sozialer Konditionierung.
Australien
Für seinen Beitrag, der eines der Hauptthemen der diesjährigen Biennale aufnimmt, wurde Archie Moore (*1970, Toowoomba) in diesem Jahr mit dem Goldenen Löwen für den besten Pavillon ausgezeichnet. Nach Tracey Moffatt 2017 ist er der zweite indigene Künstler, der Australien vertritt. Auf die schwarz gefärbten Wände und die Decke des Pavillons zeichnete er über zwei Monate lang anhand miteinander verbundener Kästchen seinen Stammbaum, der, so die Aussage des Künstlers, unglaubliche 65.000 Jahre und 2.400 Generationen umfasst. Dafür recherchierte Moore in Stammes-Tagebüchern, auf Karten, in Archiven. Dort wo Informationen fehlten, blieben die Kästchen leer – und stehen auch für die Lücken in der Geschichte, infolge jahrhundertelanger Verfolgung und Unterdrückung.So sind auch die Stapel an Papieren, die in der Mitte des Pavillons platziert sind, zum Teil gerichtsmedizinische und behördliche Dokumente zu Untersuchungsberichten ungeklärter Todesfälle von Aborigines in staatlicher Obhut.
Spanien
Die aktuelle Biennale holt viel auf, was den umfassenderen Blick auf die Kulturgeschichten der Erde betrifft. Hierin brilliert die heute in Spanien lebende peruanische Künstlerin Sandra Gamarra Heshiki (*1972 Lima). Kuratiert von Agustín Pérez Rubio, erklärt sie den spanischen Nationalpavillon zur „Pinacoteca Migrante“. Dabei herausgekommen ist eine erlebenswerte, scheinbar institutionalisierte Kunstgalerie in mehreren Sälen. Ihr Hauptakteur sind die vielen Facetten der Migration, dafür werden unterschiedliche Medien bedient. Ein Höhepunkt ist ein fiktives Atrium im Zentrum des klassisch wirkenden, dabei aber alle Konventionen unterwandernden Ausstellungsgebäudes. Besuchende scheinen sich im Freien wiederzufinden, um einen Moment der Reflexion freizuspielen – tatsächlich befinden sie sich aber nach wie vor mitten im Inneren des Pavillons und der Debatten rund um die Dekolonialisierung der Kunstgeschichte.