Chemnitz, Kulturhauptstadt 2025

Underdog Chemnitz – zwischen Hoffnung und Realität

PURPLE PATH, Olaf Holzapfel, Zwei in ein ander Gewobene, Amtsberg, Chemnitz Kulturhauptstadt 2025, Foto: Johannes Richter

Chemnitz ist heuer Europäische Kulturhauptstadt – und mit ihr eine ganze Region von 38 Kommunen. Das Motto „C the Unseen“ klingt verheißungsvoll: sichtbar machen, was lange im Schatten stand. Tatsächlich ist die Herausforderung für Chemnitz aber weit größer, als es Performances, Konzerte und Vernissagen vermuten lassen.


 

Karl ist nie allein. Das meistbesuchte Denkmal in Chemnitz ist die monumentale Karl-Marx-Büste aus Bronze des russischen Bildhauers Lew Kerbel. Dieses Relikt der DDR-Zeit ist paradoxerweise zum touristischen Wahrzeichen geworden. Doch es ist mehr als Folklore: Die Wucht des „Nischl“, wie er im Volksmund genannt wird, steht sinnbildlich für die Identitätssuche einer Stadt – vormals eben Karl-Marx-Stadt –, die noch immer zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oszilliert.

Die Stadt trägt eine schwere Vergangenheit: In den 1990er-Jahren verließen etwa 90.000 Einwohner – vor allem junge Menschen – Chemnitz. Der Bevölkerungsschwund hinterließ Lücken, auch im Selbstverständnis der Stadt. Dazu kamen politische Spannungen und ein Image, das von Bildern rechter Aufmärsche geprägt wurde. Gerade vor diesem Hintergrund betont Intendant Stefan Schmidtke im Gespräch mit PARNASS immer wieder, dass die Grundidee der Kulturhauptstadt eine Idee der (Re-)Demokratisierung europäischer Gesellschaften sei – wie von der griechischen Sängerin und Kulturministerin Melina Mercouri als Gründerin des Kulturhauptstadt-Projekts gefordert.
Passend dazu wurde auch das Generationenprojekt von Christian Knaack initiiert, das Begegnungen zwischen Jung und Alt fördert und den Gedanken einer partizipativen und toleranten Demokratie greifbar machen soll. Doch hier gibt es viel Luft nach oben: Vor allem die migrantische Jugend wurde kaum erreicht.

Auf der anderen Seite steht das Engagement der Bürger:innen: Tausende Freiwillige unterstützen die Kulturhauptstadt-Aktivitäten, helfen bei Veranstaltungen und treten in Diskussionen mit Gästen oft selbst als Zeitzeugen auf. Solche Stimmen machen greifbar, dass Chemnitz 2025 nicht nur von Institutionen, sondern von den Bewohner:innen (mit-)getragen wird.

Bunte Esse, Daniel Buren, © Ernesto Uhlmann

Bunte Esse, Daniel Buren, © Ernesto Uhlmann

Chemnitz kann auf reiche (Kultur-)Traditionen bauen: Die Kaufhäuser der jüdischen Handelsfamilien Tietz und Schocken – letzteres eine Ikone der Bauhaus-Moderne von Erich Mendelsohn –, die epochale Jugendstil-Villa der Familie Esche – von Henry van de Velde entworfen – sind bis heute sichtbare Zeichen einer Zeit, in der die Stadt als innovatives Handels- und Architekturzentrum galt. Diese Vergangenheit in die Gegenwart zu übersetzen, wäre eine große Chance der Kulturhauptstadt.

Projekte gibt es reichlich: Die von Diana Kopka kuratierte Ausstellung „Angst“ in den Kunstsammlungen lässt versiert Edvard Munch mit anderen Künstler:innen wie Egon Schiele, Andy Warhol, Monica Bonvicini oder Paula Rego in einen Dialog treten. Hier werden stringent wie berührend existenzielle Gefühle ins Bild gesetzt. Das renovierte Geburtshaus von Karl Schmidt-Rottluff knüpft ebenfalls an die künstlerische Tradition der Stadt an und seine in den Kunstsammlungen ausgestellten Arbeiten verdeutlichen einmal mehr die Meisterschaft des Künstlers.

Besonders eindrucksvoll auch das Festival ibug (kurz für Industrie-Brachen-Um-Gestaltung), das seit nunmehr 20 Jahren stattfindet – jedes Mal an einem anderen Ort, in abbruchreifen Bürohäusern oder Industrieruinen. Mit einem geringen Budget von rund 100.000 Euro muss es auskommen; allein 50.000 bis 60.000 Euro verschlingen sicherheitsrelevante Sanierungsarbeiten. Und dennoch gelingt es, mit Street-Art und urbaner Intervention einen respektablen Besucher:innenzustrom zu generieren.

Auch der PURPLE PATH, zusammengestellt vom ehemaligen Galeristen Alexander Ochs, gehört zu den Leitprojekten. Der Skulpturenpfad zieht sich über die gesamte Region und bringt internationale Kunst in ländliche Räume. Viele Arbeiten entstanden direkt vor Ort, wurden aus dem Kulturhauptstadt-Budget finanziert und angekauft. Bei der Anfertigung kamen natürlich Betriebe aus der Region zum Zug“, betont Ochs im Gespräch mit PARNASS. „Selbst wenn es harte Auseinandersetzungen mit Bürgermeistern oder Gemeinderäten gegeben hat, sind die Orte nun stolz auf ihr bleibendes Kunstwerk.“

Zu den eindrucksvollsten Beispielen zählen Olaf Holzapfels Werk „Zwei in ein ander Gewobene“ auf der Dittersdorfer Höhe – ein wunderbarer Anziehungspunkt für Wanderer“, wie Sylvio Krause, der Bürgermeister von Amtsberg, berichtet – sowie Leiko Ikemuras märchenhafte, ikonische Skulptur Usagi Greeting“ im Schlosspark Lichtenwalde. Oder bereits symbolhaft für Chemnitz: Der siebenfärbige Schornstein von Daniel Buren ist ein weithin sichtbarer Markstein. Der „Buntstift“ wurde zwar schon 2013 realisiert, aber ins PURPLE PATH-Projekt integriert. Ein weiteres Highlight ist für November 2025 geplant: Im Museum Kohlewelt in Oelsnitz wird die monumentale Lichtinstallation „Beyond Horizons“ von James Turrell eröffnet. Gerade Stimmen von Bürgermeistern wie Krause sind dabei entscheidend: Sie spiegeln die regionale Verankerung solcher Projekte und zeigen, dass die Kunstwerke nicht nur als Fremdkörper wahrgenommen werden, sondern vor Ort Akzeptanz und sogar Stolz erzeugen können.

Purple Path, Olaf Holzapfel, Foto: Christof Habres

Purple Path, Olaf Holzapfel, Foto: Christof Habres

Die entscheidende Frage bei den europäischen Kulturhauptstädten ist die der Nachhaltigkeit. Was kommt danach? Diese bemisst sich einerseits an der Sichtbarkeit, also im Tourismus. Im Fall von Chemnitz aber geht es mindestens ebenso um die sozialpolitische und demokratische Öffnung: Toleranz, Teilhabe und das gemeinsame Stärken einer Stadtgesellschaft, die lange von Abwanderung und Brüchen geprägt war.

Am Ende könnte sich zeigen, dass Chemnitz – bei allen Schwierigkeiten – gerade seinen Reiz darin hat, als urbaner Underdog Sachsens wahrgenommen zu werden: kein glattgebügeltes Aushängeschild, sondern ein Ort, an dem die Zukunft der Kulturpolitik an ihren rauen Kanten verhandelt wird.


Was kommt nach der Kulturhauptstadt?

Interview mit Intendant Stefan Schmidtke

PARNASS: Was passiert nach dem Projekt Kulturhauptstadt?
Stefan Schmidtke: Mein Vertrag läuft bis Ende 2026. Wir haben den Zuschlag für das Festival Theater der Welt erhalten und führen dort auch die Jugendbeteiligungs- und Freiwilligenprogramme weiter.

P: Wie äußert sich denn das Feedback aus den 38 beteiligten Gemeinden mit ihren Kunstprojekten? Begegnen Sie hier noch skeptischen Bürgermeister:innen?
SS: Das Gegenteil von Skepsis ist der Fall – und das hat mich überrascht. Oft höre ich Sätze wie: „Nur wegen der Kulturhauptstadt haben wir das erreicht!“ oder „Die Kulturhauptstadt ist cool!“ So merke ich, wie stark die Projekte greifen. Neulich etwa im Zug nach Dresden: Ich traf einen jungen Mann mit Fahrrad. Er erzählte begeistert von einer 27-Stunden-Tour entlang des Kunst- und Skulpturenwegs PURPLE PATH – 400 Kilometer, sechs Stationen mit Aufgaben. Seine Begeisterung war ansteckend, er lobte die Kulturhauptstadt in den höchsten Tönen. Da dachte ich: Es wirkt wirklich. Und er wusste nicht einmal, mit wem er sprach. Solche Begegnungen habe ich immer wieder – und sie zeigen mir, dass die Idee trägt.

Stefan Schmidtke, Chemnitz25, Foto © Johannes Richter

Stefan Schmidtke, Chemnitz25, Foto © Johannes Richter


Warum Kulturhauptstädte Langzeitprojekte bleiben lesen Sie auch hier: 
Bad Ischl 2024 – Was bleibt? Erfolg, Skepsis und offene Fragen

 


 

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