Tatiana Trouvé im Porträt
In Italien geboren, im Senegal aufgewachsen, in Frankreich ausgebildet gehört Tatiana Trouvé (*1968) zu den international bekannten und geschätzten Vertreterinnen der französischen Gegenwartskunst. Wir besuchten sie in ihrem Pariser Atelier. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Ausgabe 03/2024.
DIE WÄHRUNG DES WARTENS
Seit der Omnipräsenz der Smartphones wird es eine aussterbende Kulturtechnik: Warten. Wartezeit wird in Bildschirmzeit umgemünzt. Als Tatiana Trouvé, Tochter eines französischen Vaters und einer italienischen Mutter, sich 1995 in Paris niederlässt, gibt es weder Smartphones noch öffentliches WiFi. Nach dem Studium an der Villa Arson in Nizza und der renommierten alternativen Künstler-Schmiede Atelier 63 im niederländischen Haarlem (heute De Ateliers, Amsterdam) auf der Suche nach Arbeit, lernt die junge Künstlerin das Warten. Und merkt, dass im Warten selbst ein Wert liegt, mehr noch, dass Warten auf Arbeit, nach vielen Versuchen selbst Vollzeitjob geworden, Werk werden kann. Zwei Jahre später richtet sie das Büro impliziter Tätigkeiten ein, kurz „B. A. I.“
Das Sammeln, Klassifizieren und Ordnen von Lebensläufen, nie realisierten Kunstprojekten, Absage-Schreiben oder Fehlleistungen war für Trouvé Überlebensstrategie: „Als ich ohne Arbeit dastand und Absage über Absage erhielt, durfte ich nicht verzweifeln“, erklärt sie bei unserem Besuch in ihrem sonnendurchfluteten, geräumigen Atelier im Pariser Vorort Montreui. Im hinteren Teil des Ateliers stehen mehrere Leinwände, an denen sie arbeitet, in Regalen lagern Materialien und Werkstücke, im vorderen Bereich stehen Skulpturen.
Tatiana Trouvé hat viel zu tun. Heute vertreten von der mächtigen Pariser Galerie Emmanuel Perrotin und dem amerikanischen Tycoon Larry Gagosian, erhält Trouvé 2001 den kuratierten Kunstpreis der Unternehmensstiftung Ricard, einer der beiden begehrtesten Kunstpreise Frankreichs. Der andere, der von Sammlern vergebene Prix Duchamp, folgt sechs Jahre später. 2020 wird ihr der Titel „Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres“ vom französischen Kulturministerium verliehen. Sie ist seit 2019 Professorin an der Kunsthochschule Beaux-Arts de Paris.
Hat sich das Warten also für sie gelohnt?
„Vielleicht war es eher meine Hartnäckigkeit“, lacht die Künstlerin, „und eine große Genauigkeit, eine Nähe zu Orten, Menschen, Material.“ Damit verweist sie auf ihre aktuellen Produktionen, die sich von den Installationen der frühen 2000er-Jahre absetzen.
„Ich arbeite momentan viel mit Bronze, habe einen tollen Gießer in Neapel“, erläutert sie und zeigt auf zwei Stühle, auf einem liegt ein Koffer. Die Stühle und der Koffer sind aus Bronze, darauf liegt ein Buch aus Onyx, auf einem anderen Stuhl ist ein Kissen in Marmor nachgebildet. „Ich arbeite mit Steinen, die ich vor Ort finde, das hat etwas mit Arbeitsökonomie zu tun.“
„Ich achte darauf, Materialien zu benutzen, die nachwachsen", sagt sie, "zum Beispiel Plastik aus Algen –, oder ich recycle. Wie der Asphalt, den ich als Rest aus den LKWs für meine Arbeit erhalte – für den Straßenbau ist der unbrauchbar, für mich ist es ein spannendes Material, weil es trotz seiner stabilen Anmutung ständig fließt.“ Organisch wie der Stein: „Stein baut sich sehr, sehr langsam auf. Geologisch gesehen ist er kein Material, das starr und kalt ist, sondern etwas mit einem sehr, sehr langen, langsamen Leben.“
Bücher, Literatur, Erzählungen strukturieren Tatiana Trouvés Werk, das sich von Beginn an eingehend mit der Literatur von Jorge Luis Borges oder Fernando Pessoa auseinandersetzt, sich zur Fiktionalisierung des Alltags auswächst. Erinnern die Stühle an van Gogh, an George Brecht oder den Schweizer Eric Hattan, so erhalten sie bei Trouvé eine andere Präsenz, erzählen als wertvolle Objekte von prekärer Sesshaftigkeit, von Übergang, vielleicht Flucht. „Diese Skulpturen wurden mit der Absicht geschaffen, Wächter oder andere Propheten zu sein“, sagte sie im Interview mit der Pinault-Stiftung.
Die Stühle seien zudem „gemacht, um in Gesellschaft anderer Werke zu sein, um Werke, aber auch Ideen aufzubewahren.“ Ein zentrales Motiv im Werk von Tatiana Trouvé ist Verknüpfung, Verflechtung, wie textile Gewebe kann das Gesamtwerk als ein Text begriffen werden. „Die Bücher, die ich in den Skulpturen zitiere, sind inhaltlich aufeinander bezogen, man kann durch die Wächter hindurch in Texte eintauchen.“
Jede Arbeit in ihrem umfangreichen Œuvre steht auf mehr oder weniger geheime Weise mit anderen in Verbindung: „Was ich am meisten mag, ist, sie aufeinander abzustimmen und ineinander übergehen zu lassen und wirklich von einem Material zum anderen zu wechseln, die gleichzeitig koexistieren.“
Dafür arbeitet sie meist parallel an mehreren Projekten. In Neapel gegossene Teilstücke werden im Pariser Atelier zusammengefügt. Jedes Werk sei einzigartig, sie kombiniere neu, verwende manche Gussformen wieder: „Ich versuche, Diskussionen zwischen den Stücken auszulösen.“ Das unterscheidet Kunst von Propaganda und eingängigen Botschaften: innehalten, die Möglichkeit der Öffnung, die sich ergibt, wenn wir, ohne weitere Aktivität, einfach nur warten.
2025 wird die Pinault Collection Tatiana Trouvés Arbeit im Palazzo Grassi in Venedig in ihrer bisher größten Einzelausstellung zeigen.