Eine umfassende Kokoschka-Retrospektive erzeugt künstlerische Aufbruchsstimmung. Alle wollen zum „Wilden in Wien“: das Musée d’Art Moderne de Paris arbeitet inzwischen mit Reservierungen, so sehr erhitzt Kokoschkas getriebene Expressivität derzeit das Publikum. Die Ausstellung ist noch bis 12. Februar 2023 zu sehen.


Oskar Kokoschka, für manche kalter Kaffee einer zu oft gefeierten männlichen Moderne, ist ganz im Gegenteil: „hot“. Zumindest in Paris: „Für mich ist Kokoschka schon lange wichtiges Vorbild“, erzählte der in Montpellier lebende Maler Gregory Forstner am Vernissagenabend, „ich glaube aber, dass er in Frankreich kaum bekannt ist“. Tatsächlich pflegt Forstner, international erfolgreicher Wahl-Franzose mit amerikanischen Wurzeln, denselben ernsten Witz, die fabulierende Treffsicherheit. Wie zum Beweis deutet er auf „Entfesselung nuklearer Energie“ und dessen „zeitlose Aktualität“. 1946-47 malte Kokoschka das satirische Bild, auf dem ein Tiger als Sinnbild nuklearer Bedrohung aus einem Zirkuswagen ausbricht, während die ihm den Rücken zuwendenden Menschen nur mit sich beschäftigt sind. Verloren hängt an einem Baum ein Plakat mit der Aufschrift „Peace“.

Für mich ist Kokoschka schon lange wichtiges Vorbild.

Gregory Forstner

Schock und Haltung

Aktuell blieb der 1886 geborene Maler, Dramaturg, Dichter und Schriftsteller Kokoschka zeitlebens. Seit 1908 schockte er in Wien, zog seinen Porträt-Modellen die Hosen runter bis zum Seelen-Kern. Vor allem, das ist nach dem langen Rundgang durch die 150 Werke starke Retrospektive klar, war Kokoschka ein Künstler mit Welt-Haltung. Unabhängig wirkte er politisch durch Jahrzehnte von Aufbruch, Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau, ohne seine Kunst auf Botschaften zu reduzieren. 1980 verstorben, hatte er noch 94-jährig seine klare, der Gesellschaft zu-, platten Ideologien abgewandte Position.

Beeinflusst vom großen Reformer Jan Amos Comenius, Gegenspieler von Descartes, setzte Kokoschka auf die emanzipatorische, universale Kraft der Bildung – mittels Kunst. Figurative Malerei als Welt-Verhältnis: das trifft ein Bedürfnis der Heutigen, in einem noch immer kartesianischen Frankreich auf der Suche nach Erneuerung. Nachdem man fast dreißig lange Jahre lang figurative Malerei als bourgeois abgetan hat, wird genau diese jetzt gefeiert. So sehr, dass auf den jüngsten Messen viel Zweit- und Drittklassiges hervorgekramt wurde. Das enorme Interesse des Pariser Publikums für den „Fauve à Vienne“ dürfte darin begründet liegen, dass sich hier eine Malerei findet, die weit mehr bereithält als Revival-Gefühl.

Oskar Kokoschka, Tortues géantes (tortues alligator) / Riesenschildkröten, 1927 Huile sur toile 90,4 × 118,1 cm Kunstmuseum Den Haag, La Haye © Fondation Oskar Kokoschka / Adagp, Paris 2022

Weinen vor Kokoschka

„Oskar Kokoschka sagte mir einmal, er habe Tränen vor einem Memling vergossen“, schrieb der Kunsthistoriker E.H. Gombrich an James Elkins für dessen Buch „Weinen vor Bildern“. „Er war äußerst bewegt von den nackten Füßen im Wasser.“ Kokoschka weint: die Ausstellung vermittelt Malerei als emotionale Erfahrung. Man empfindet Verbundenheit, wie „Die Freunde“, 1917-18 während seiner Genesung in Dresden gemalt. Einsamkeit, wie „Maler mit Puppe“, 1922 aus seiner weithin bekannten unglücklichen Trennungsgeschichte mit Alma Mahler entstanden. Gewalt, Macht, Begehren, wie mit dem Plakat zur Oper „Mörder, Hoffnung der Frauen“ von Paul Hindemith, zu dem Kokoschka auch das Libretto schrieb.

Oskar Kokoschka sagte mir einmal, er habe Tränen vor einem Memling vergossen.

E.H. Gombrich

Sicher, die vermeintlich misogyne Seite dieses verletzlichen und verletzten Modernen wäre zu diskutieren. Es ist Verdienst dieser kommendes Frühjahr ans Guggenheim Bilbao weiter wandernden Zusammenschau, dazu anzuregen, verständig. In Paris lassen die vielen jungen KünstlerInnen im Publikum erwarten, dass die Retrospektive Spuren hinterlassen wird, im Kommenden. „Was die Unentschlossenen betrifft,“ beendete Georges Bataille 1931 seine Besprechung einer „skandalösen“ Kokoschka-Ausstellung in der Pariser Galerie Petit, „so ist kaum zu erwarten, dass sie dort eine Gelegenheit finden, ihren Zustand zu verlassen.“  Der „brillante und virtuose Künstler“ sei eben keiner, der Einordnungen leicht macht – unabhängig, fordert er Unabhängigkeit.

Oskar Kokoschka Autoportrait / Selbstbildnis, 1917 Huile sur toile 79 x 63 cm Von der Heydt-Museum, Wuppertal / photo Patrick Schwarz © Fondation Oskar Kokoschka / Adagp, Paris 2022

Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris

11, avenue du Président Wilson, 75116 Paris
Frankreich

Oskar Kokoschka

Enfant terrible in Vienna

bis 12. Februar 2023

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