Marina Abramović über Körper, Scham und Jugend

Die Performance-Pionierin Marina Abramović wird im Oktober mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet. Zugleich widmet ihr die Albertina Modern eine große Retrospektive, die ein radikales Lebenswerk zwischen Körper, Zeit und Transzendenz feiert und Anlass gibt, mit der Künstlerin über Ausdauer, Scham und Präsenz zu sprechen.
PARNASS: Mit dem Praemium Imperiale werden herausragende künstlerische Lebenswerke gewürdigt. Wie ordnen Sie diese Auszeichnung für sich ein?
MARINA ABRAMOVIĆ: Der Preis bedeutet mir viel, vor allem als Anerkennung meines Weges. Ich habe den Praemium Imperiale für Skulptur bekommen, doch in vieler Hinsicht ist mein Körper selbst eine Skulptur. Diese Ehrung zeigt, dass meine Arbeit nach all den Jahren endlich ernst genommen wird. Ein Weg, der vor fünfundfünfzig Jahren mit zehn Freunden im Publikum begann.
P: Ihre Performances fordern Körper und Geist gleichermaßen. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
MA: In den 1970er-Jahren haben wir Performer:innen uns kaum vorbereitet. Wir arbeiteten mit Willenskraft und Konzentration, aber nicht mit körperlichem Training. Das war den Tänzer:innen vorbehalten. Doch als ich begann, Langzeitperformances zu entwickeln, wurde mir klar, dass es nicht ohne Vorbereitung geht. Man muss lernen, Ausdauer und Konzentration zu entwickeln, die physischen und mentalen Grenzen auszuloten und den Umgang mit der Zeit zu verstehen.
Für „The Artist is Present“ habe ich ein Jahr lang trainiert wie ein Astronaut. Ich brachte meinen Körper in einen Zustand, in dem er nicht mehr reagierte. Nachts nahm ich genügend Kohlenhydrate und Kalorien zu mir, aß Fleisch und trank Wasser, damit ich tagsüber weder essen noch die Toilette aufsuchen musste. Man muss langsam anfangen und wirklich lernen, auf den eigenen Körper zu hören.

Marina Abramović, Albertina Modern, 2025, Foto: PARNASS
Ich brachte meinen Körper in einen Zustand, in dem er nicht mehr reagierte. [...] Man muss langsam anfangen und wirklich lernen, auf den eigenen Körper zu hören.
P: Scham ist ein zentrales Motiv in Ihrer Arbeit. Was hat Sie dazu bewegt, dieses so intime Gefühl offen zu zeigen und in Kunst zu verwandeln?
MA: Als Kind war ich extrem introvertiert. Ich konnte kaum auf der Straße gehen, weil ich mich so unglaublich hässlich fühlte. Ich trug orthopädische Schuhe, weil ich Plattfüße hatte, und mein Gesicht war rund, mit einer großen Nase. Ich wollte immer eine Nase wie Brigitte Bardot, doch meine Mutter ohrfeigte mich und sagte, das komme nicht infrage. Ich fühlte mich zu groß, anders, wie ein schwarzes Schaf. Ich passte nirgends hinein.
Ich habe bewusst schambesetzte Dinge inszeniert, um mich von Scham zu befreien. Es ist ein unglaublich schwieriges Gefühl, mit dem man arbeiten muss. Aber in dem Moment, in dem ich performte, verschwand all das. Die Performance war der Raum, in dem ich wirklich anwesend war.

Marina Abramović, Lips of Thomas, 1975, Performance, 2 Stunden, Galerie Krinzinger, Innsbruck, Courtesy of the Marina Abramović Archives, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / Bildrecht, Wien 2025
P: Hat die Performancekunst ihre ursprüngliche Dringlichkeit bewahrt? Oder hat sich ihr Impuls im Laufe der Jahrzehnte verwandelt?
MA: Ganz klar, ja. Performance bleibt eine immaterielle und zutiefst menschliche Kunstform. Sie verlangt Präsenz und schenkt Energie, Emotion und Teilhabe. Im Unterschied zum Museumsbesuch, bei dem man ein Bild betrachtet und anschließend nach Hause geht, erlebt man in einer Performance etwas unmittelbar Bewegendes. Genau das braucht das Publikum heute. Viele junge Menschen verbringen ihre Zeit vor Bildschirmen, wandern durch virtuelle Räume, ohne wirklichen Kontakt zu sich selbst. Das macht traurig. Vielleicht kommen deshalb so viele zu unseren Performances. Sie suchen das Echte, das sie berührt und fühlen lässt.
P: In Ihrem Institut verdichtet sich vieles, was Ihr Werk geprägt hat. Worum geht es Ihnen dabei?
MA: Das Institut ist mein Vermächtnis. Es soll das Erbe der Performancekunst bewahren und sie als lebendige Kunstform weiterführen. Ich verfüge über ein großes Archiv historischer Performances und möchte es der Öffentlichkeit zugänglich machen, damit Menschen dort studieren und lernen können. Wir organisieren Workshops in Griechenland, offen für alle, die die Marina-Abramović-Methode erleben möchten. Zugleich fördern wir junge Künstlerinnen und Künstler, die mit Langzeitperformances arbeiten und bisher keine Sichtbarkeit hatten.
Das Wichtigste ist für mich, dass sie mit eigenen Ideen kommen. Sie sollen wissen, was vor ihnen geschah und daraus Neues formen, ihre eigene Geschichte erzählen. Es geht darum, die Wurzeln der Performancekunst zu kennen und den Mut zu haben, sie weiterzutreiben, neu zu beleben. Gerade in der Arbeit mit jungen Künstlerinnen und Künstlern spüre ich, wie lebendig dieser Prozess ist.

Marina Abramović, Albertina Modern, 2025, Foto: PARNASS
Ruhestand ist für mich keine Option. Ich werde arbeiten, bis ich sterbe.
P: Wie erleben Sie den Austausch mit der nächsten Generation?
MA: Die Arbeit mit ihnen verleiht mir ein Gefühl für die Zeit, in der wir leben. Mich interessiert, was sie bewegt. Ich tauche in ihre Welt ein, um zu verstehen, woher ihre Inspiration kommt.
Es ist ein echter Austausch in beide Richtungen. Ich bringe das alte Wissen, sie schenken mir Frische und Neugier. Ich bin fast nur noch von jungen Menschen umgeben, weil meine eigene Generation mich ehrlich gesagt ermüdet. Sie beklagen sich, sie wiederholen sich, sie haben den Mut zum Risiko verloren. Ich brauche frische Köpfe. Menschen, die noch staunen können.
P: Sie arbeiten ununterbrochen. Denken Sie manchmal daran, langsamer zu werden oder sogar aufzuhören?
MA: Nein, das kommt für mich nicht infrage. Meine künstlerische Arbeit entwickelt sich ständig weiter. Ich arbeite derzeit an neuen Projekten und monumentalen Inszenierungen wie „Balkan Erotic Epic“ und bin bereits bis 2028 ausgebucht. Ruhestand ist für mich keine Option. Ich werde arbeiten, bis ich sterbe.

Marina Abramović, The Hero, 2001, Einkanalvideo, 14 Min. 21 Sek., Courtesy of the Marina Abramović Archives, and Galeria Luciana Brito, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / Bildrecht, Wien 2025
Mit fast achtzig blickt Marina Abramović zurück, aber ohne sich zu zügeln. Ihre Arbeit bleibt Bewegung, Präsenz, Energie. Die Retrospektive in der Albertina Modern zeigt, wie sehr ihr Werk weiterhin Fragen stellt und noch lange nicht abgeschlossen ist.
Über den Praemium Imperiale:
Der jährlich von der Japan Art Association verliehene und mit rund 87.000 Euro (15 Millionen Yen) dotierte Praemium Imperiale gilt als eine der weltweit höchsten Auszeichnungen für Kunst. Oft wird er als der „Nobelpreis der Künste“ bezeichnet.
Gewürdigt werden Künstlerinnen und Künstler für ihr Lebenswerk in den Kategorien Malerei, Skulptur, Architektur, Musik sowie Theater und Film. 2025 erhalten Marina Abramović (Skulptur), Peter Doig (Malerei), Eduardo Souto de Moura (Architektur), Sir András Schiff (Musik) und Anne Teresa De Keersmaeker (Theater/Film) die Auszeichnung. Die Ehrung findet am 22. Oktober in Tokio statt.

Marina Abramović, Albertina Modern, 2025, Foto: PARNASS
