Der Kurort mit Nebengeräuschen

Kunstsehen in Südtirol – zwischen Thermalbad und Kolonialgeschichte

Belinda Kazeem-Kamiński, Untitled (Lash. Linger. Load/Nkisi), 2025, Courtesy the artist, Foto: Ivo Corrà

Südtirol kann vieles sein: Genusslandschaft, Wanderparadies, architektonisches Mosaik. Doch zwischen Thermalbad und Alpenpanorama schlummern auch Geschichten, die nur leise erzählt wurden – oder lange gar nicht. Besonders Meran, die beliebte Kurstadt mit ihren Jugendstilfassaden und Palmenpromenaden, überrascht mit Kontrasten: Hier trifft historische Idylle auf künstlerische Intervention.


 

Kunst Meran „Aerolectics“ – ein Aufschrei in Meran

Mit einem kraftvollen Aufschrei rüttelt Belinda Kazeem-Kamiński Südtirol wach. In den lichtdurchfluteten Räumen von Kunst Meran, mitten in der Altstadt, präsentiert die österreichische Künstlerin bis 9. Juni 2025 ihre erste Soloschau in Italien. Aerolectics widmet sich einem weitgehend verdrängten Kapitel der Südtiroler Geschichte – dem katholischen Missionswesen und seinen kolonialen Verflechtungen mit afrikanischen Kontexten. Kazeem-Kamiński verknüpft Vergangenheit und Gegenwart auf eindringliche Weise.

Belinda Kazeem-Kamiński, Rub, Rock, Earth. Throat Clearing, 2025, Courtesy the artist, Still

Belinda Kazeem-Kamiński, Rub, Rock, Earth. Throat Clearing, 2025, Courtesy the artist, Still

Durch drei Etagen hallen Schreie, Rhythmen und Flüstern – sind es Schreie der Wut oder Befreiungsrufe? Die Künstlerin arbeitet multimedial und lässt ihre jahrelangen Recherchen in Videoarbeiten, Installationen und Skulpturen Gestalt annehmen. Mit bisher unveröffentlichtem Material rückt sie die Geschichten junger, oft namenloser Opfer der Missionspraxis ins Zentrum – Kinder, die im 19. Jahrhundert gewaltsam nach Europa verschleppt, getauft und umerzogen wurden. Alles im Namen einer vermeintlichen „Seelenrettung".

Ich kann nicht jede Geschichte erzählen – aber die, zu der ich eine starke Verbindung spüre.

erklärte Belinda Kazeem-Kamiński bei der Eröffnung

Eine dieser Geschichten ist die von Gambra*, Schiama* und Asue*. Ihre Namen – fehlerhaft aus dem Arabischen übersetzt – stehen sinnbildlich für das ausgelöschte Wissen über ihre Identitäten. Die drei Mädchen wurden von einem italienischen Priester im Kloster von Bruneck festgehalten. Während sich zwei von ihnen der erzwungenen Konversion fügten, leistete Asue* Widerstand. Die Nonnen beschimpften sie als „wilden Sturm“ – eine, die sich auch unter Gewalt nicht zähmen lässt.

Der Gang durch die Ausstellung ist eine Bewegung nach oben – zu den Schreien, durch die Elemente: Erde, Feuer, Wasser, Luft. In der Videoinstallation „Ọya! Fire“ findet man die Quelle dieser Energie. Die gezeigte Performance, ausgeführt mit einer Maske, lädt dazu ein, Wut Raum zu geben. Doch wessen Wut ist gemeint? Die von Frauen, die gegen Unterdrückung aufbegehren? Die Wut auf Migrant:innen, die sich angeblich nicht „anpassen“ – oder die derjenigen, die zum Anpassen gezwungen werden?

Belinda Kazeem-Kamiński, Ọya! Fire, 2025, Courtesy the artist, Foto: Ivo Corrà

Belinda Kazeem-Kamiński, Ọya! Fire, 2025, Courtesy the artist, Foto: Ivo Corrà

Die Performance steigert sich wie ein heraufziehender Sturm. „It needs the power of a storm to unearth the story“, sagt die Künstlerin. Und genau diese Kraft entfaltet Aerolectics – nicht nur als Ausstellung, sondern als Aufarbeitung, als Gedenken, als Anklage.

Dass sich ein Haus wie das Kunst Meran dieser Thematik widmet, sagt viel über die Stadt aus. Und noch mehr über ihren Wandel.

 

 

frauenmuseum meran

Meran ist kompakt, fast kuratorisch aufgebaut: Thermalpromenade, Altstadt, Tappeinerweg. Dazwischen Orte, die man leicht übersieht. Etwa das Frauenmuseum Meran. In einem ehemaligen Kloster untergebracht, wirft es mit wechselnden Ausstellungen einen feministisch-historischen Blick auf Gesellschaft, Arbeit und Körperbilder.

Frauenmuseum Meran, Foto: Martin Drahorad

Frauenmuseum Meran, Foto: Martin Drahorad

weitere Reisetipps in Südtirol

Brixen

Stadtgalerie Brixen – Starten Sie Ihren Art Trip entspannt mit einem Besuch in dieser charmanten Galerie im historischen Zentrum. Danach durch die Altstadt schlendern, vielleicht ein Espresso auf der Adlerbrücke?

Optionaler Abstecher (wenn mobil) - Fahrt nach Wolkenstein in Gröden (ca. 1 Std.) – Das Tublà da Nives bietet immer wieder ein abwechslungsreiches Programm und eine Auswahl an Ausstellungen in spektakulären Kulisse.

Brixen © Brixen Tourismus, Foto: Philipp Seyr

Brixen © Brixen Tourismus, Foto: Philipp Seyr

Nächster Stopp: Bozen

Südtiroler Künstlerbund (Bozen) – line.point.texture. a dialogue

Noch bis zum 18.04.2025 zeigen Anuschka Prossliner und Sabine Steinmair eine feinsinnige Auseinandersetzung mit Material, Linie und Oberfläche. Die Ausstellung lädt zum Eintauchen in ein sensibles künstlerisches Gespräch ein – perfekt für alle, die gerne über Details und Stimmungen sinnieren.

AR/GE Kunst – Pfeffer und Oliven. Zur Gegenüberwachung

Leander Schwazer kuratiert diese kritische, dichte Ausstellung mit Arbeiten von The Late Estate Broomberg & Chanarin. Zwischen Überwachung, Widerstand und politischem Bildverständnis – AR/GE Kunst bleibt ein Muss für alle, die sich für zeitgenössische Diskurse interessieren.

MUSEION Bozen
Das MUSEION ist das zentrale Haus für moderne und zeitgenössische Kunst in Südtirol. Seit seiner Gründung versteht es sich als Ort für internationale Positionen ebenso wie für lokale Strömungen. Der minimalistische Glasbau am Talferufer, entworfen von den Berliner Architekten KSV, bietet auf mehreren Ebenen Raum für wechselnde Ausstellungen, eine Sammlung sowie ein vielseitiges Rahmenprogramm.

MUSEION Bozen, Foto: Luca Guadagnini

MUSEION Bozen, Foto: Luca Guadagnini

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