Kunst existiert nicht im luftleeren Raum

Seit 1999 leitete Klaus Albrecht Schröder die Wiener Albertina und hat aus der Grafischen Sammlung ein neues Museum gemacht. Im PARNASS-Gespräch mit Maria Rennhofer zieht er Resümee.
PARNASS: Worin besteht die wichtigste Veränderung der Albertina nach einem Vierteljahrhundert Ihrer Generaldirektion?
Klaus Albrecht Schröder: Mit der Rekonstruktion der in den 1950er-Jahren abgeschlagenen Fassaden und der Renovierung der Prunkräume sowie ihrer Wiederausstattung mit den Originalmöbeln von 1780 und 1822 habe ich das Gefühl, dem Genius Loci am meisten gedient zu habe. Die Änderung, die mir erlaubt, nicht von einer Erneuerung der Albertina, sondern von der Gründung eines neuen Museums zu sprechen, ist aber die Etablierung der Schausammlung Klassischer Moderne, die Gründung der entsprechenden Sammlung vom französischen Impressionismus bis zu Picasso.
P: Nach der architektonischen Transformation des Palais sind zwei neue Standorte dazugekommen: Künstlerhaus und Klosterneuburg.
KAS: Sie sind ein Symptom dafür, dass der Inhalt des Museums schneller gewachsen ist als seine Haut nachgibt, obwohl wir das Palais ohnehin von 2.000 auf 11.000 m² vergrößert haben. Durch das Engagement von Hans-Peter Haselsteiner ist es gelungen, das Künstlerhaus vorbildhaft zu renovieren und zu einem modernen Museum zu machen. Im ehemaligen Essl Museum in Klosterneuburg konnte ich die Hängefläche fast verdreifachen. Es gibt nur zwei Dinge, die erfüllt werden sollen, damit man im internationalen Wettbewerb um bedeutende Sammlungen mithalten kann: Man muss den Raum bieten, und man muss so attraktiv sein hinsichtlich Besucher und Programm, dass es Künstler:innen oder Sammler:innen für erstrebenswert halten, dort ihre Sammlung hinzugeben. Und da stehen wir als Albertina im Wettbewerb mit den größten Museen der Welt.

Prof. Dr. Klaus Albrecht Schröder, © Albertina, Wien, Foto: Christopher Mavric
Hätte ich noch einmal fünf Jahre drangehängt, dann würde es die Albertina auch im Ausland geben.
P: Dieses dynamische Wachstum hat u.a. dazu geführt, dass zehntausende Werke im Wert von über zwei Milliarden Euro in diesen 25 Jahren dazugekommen sind. Gibt es auch Grenzen des Wachstums für ein Museum?
KAS: Ja natürlich, wenn man wahllos wächst, aber die Albertina hat der Republik Österreich eine Sammlung klassischer Moderne von Monet über Matisse, Kirchner, Nolde, Malewitsch, Chagall, Giacometti, Max Ernst und Magritte bis zu Picasso geschenkt. Das ist ein Wachstum, das sehr nachhaltig ist und in diesem Land gefehlt hat, sonst würden nicht jedes Jahr viele tausend Schüler:innen diesen Lehrpfad der Moderne besuchen. Und was die Gegenwartskunst betrifft: Dass die Republik Österreich 2014 die Akquisition der Essl-Sammlung abgelehnt hat, war zwar ein Fehler, ist aber letztlich der Albertina zugutegekommen. Wer hätte sich noch vor 20 Jahren ausmalen können, dass ein großes Museum in Seoul eröffnet wird mit einer Alex Katz-Ausstellung allein aus den Beständen der Albertina. Oder dass wir gleichzeitig eine Lassnig-, eine Rainer-, eine Baselitz-Ausstellung aus den eigenen Beständen in der Welt zeigen können. Das ist jene Art von Wachstum, die wir an amerikanischen Museen bewundert haben. Und jetzt ist ein europäisches dabei, das in dieser Liga voll mitspielt.
P: Wir haben seit Jahren kein Kunst-, kein Kulturministerium, in den aktuellen Parteiprogrammen und Koalitionsverhandlungen spielt die Kultur kaum eine Rolle. Welche Wünsche hätten Sie an die Politik?
KAS: Ich hatte das Glück, dass die Albertina am 1.1.2000 vollrechtsfähig wurde und dass ich diesen Spielraum, den mir das Museumsgesetz eingeräumt hat, nutzen durfte, sonst wäre mein Vertrag nicht so oft verlängert worden von den unterschiedlichsten politischen Konstellationen. Ich hatte von den jeweiligen Minister:innen die Freiheit eingeräumt bekommen, den Eingang neu zu planen, die Prunkräume zu renovieren, die historische Ausstattung zurückkaufen, fünf neue Hallen zu errichten und neue Sammlungen zu gründen und zu übernehmen, wenn ich diese Vorhaben finanzieren kann. Dafür bin ich der Politik dankbar und brauche ihr jetzt keine Wünsche auszurichten.
P: Wie ist es gelungen, private Sponsoren, Mäzene, Stifter, Freunde für diese Vorhaben zu gewinnen?
KAS: Die Albertina befand sich in der tiefsten Krise ihre Geschichte, und das lag nicht nur am deplorablen Zustand des Palais, sondern an der Konzeption dieses Museums, an der Quarantäne, unter die die Arbeiten auf Papier gesetzt wurden. Ich hatte also bereits 1999 eine klare Vision, wohin es gehen muss.
Wenn ich etwas gut kann, dann ist das, wichtige von unwichtigen Entscheidungen zu unterscheiden. Daher habe ich mich konzentriert auf die Akquisition von Sammlungen, die Diversifikation der Sammlungen und die Finanzierung. Die allerbedeutendste inhaltliche Entscheidung war die neue Präsentationsdoktrin, die ich verabschiedet habe. Alles, was wir heute sind, war 1999 bereits festgeschrieben. Aber hätte man dazwischen jemand anderen als Schröder an die Spitze der Albertina gewollt, dann hätten wir die Sammlung Batliner nicht, keine Schausammlung, keine Gegenwartskunst, keinen zweiten, keinen dritten Standort. Hätte ich noch einmal fünf Jahre drangehängt, dann würde es die Albertina auch im Ausland geben.

Albertina, © Albertina, Wien, Foto: Harald Eisenberger
P: Wo wäre das?
KAS: Es gab zuletzt drei Optionen: Busan, die zweitgrößte Stadt in Korea, Malaga im Süden Spaniens und Venedig. Doch solche Pläne kann man im Status Abeundi nicht mehr umsetzen.
P: Die Doktrin von der "Unteilbarkeit der Kunst" hat sich in den Ausstellungsprogrammen niedergeschlagen. Besteht da nicht auch die Gefahr der Austauschbarkeit von Ausstellungen?
KAS: Nein, im Gegenteil. Es gilt vielleicht nicht für Chagall und fünf weitere Ausstellungen, aber im Wesentlichen unterscheidet sich die Albertina in den Ausstellungen von allen anderen Museen der Welt. Denn eine Dürer-Ausstellung mit 13 Gemälden, aber im Zentrum 150 Aquarelle und Zeichnungen, eine Rubens-Ausstellung mit 15 Gemälden und 120 Zeichnungen gibt es sonst nirgends. Für die Menschen waren diese Präsentationen Kunst-Ausstellungen und nicht mehr Zeichnungsausstellungen, obwohl das Mengenverhältnis so eindeutig zugunsten der Zeichnung oder Druckgrafik ausschlug.
Der Anspruch und die Bildung des Publikums sind sicher generell höher als je zuvor.
P: Was waren die wichtigsten wissenschaftlichen Projekte, Forschungs- und Restaurierungsprojekte?
KAS: Die großen Restaurierungsmaßnahmen und Forschungen wurden meistens von den großen Ausstellungen getrieben. Es ist ja kein Zufall, dass die Ausstellungskataloge zu Schiele, Dürer, Raffael oder Michelangelo jeweils 600-, 700-Seiten-Wälzer sind. Die Frage der Pigmentanalysen von Dürer-Werken, weiters das internationale Silberstiftzeichnungen-Projekt oder das Forschungsprojekt zu Kaiser Maximilian: All diese Forschungsprojekte haben Konsequenzen für die Erhaltung und Pflege, Datierungen und Zuschreibungen und waren immer mit großen Ausstellungsprojekten verbunden.
P: Große Ausstellungen wie aktuell Chagall leben vom internationalen Austausch. Der stößt manchmal auch an seine Grenzen – ich denke an Ausfuhrbeschränkungen wie beim Dürer-Hasen im Prado, an die Corona-Zeit, an die Kosten, aber auch an das Thema Nachhaltigkeit. Wie sehen Sie die Zukunft dieser großen, mit Leihgaben bespielten Ausstellungen?
KAS: Ich glaube, dass sie unersetzlich sind. Wer nicht die Bahnbrecher der Kunstgeschichte monographisch präsentiert, versäumt die Chance, sich in ein Werk, in ein künstlerisches Denken einzusehen und einzufühlen. Seit der Corona-Krise haben wir online Kuriere, das heißt, ein Objekt wird nur bewegt, während es gefilmt und in Real Time aus der Ferne kontrolliert wird. Das spart enorme Kosten, weil jemand in Tokio oder New York am Schreibtisch sitzt und sich eine Dreiviertelstunde anschaut, was mit dem Bild unter seiner Anordnung passiert.
Was die Kosten betrifft: ja, die sind sehr hoch, und da hat sich etwas strukturell dramatisch verändert. Der Refinanzierungsgrad einer Ausstellung wie Modigliani in der Albertina liegt bei mindestens 300.000 Besucher:innen. Früher hat der Rang der eigenen Sammlung darüber entschieden, ob man so eine Ausstellung durchführen kann. Heute entscheidet darüber das Besucher:innenpotenzial, das an einem Hotspot des Kulturtourismus größer ist als in Winterthur, Lyon oder Stuttgart, obwohl dort großartige Sammlungen sind, die so eine Ausstellung wahrlich rechtfertigen würden. Was den Umweltschutz betrifft: Ich kann mit einer Leihgabe mehr oder weniger schwerlich das globale Klima schützen. Aber wir haben in der Albertina jährlich 450.000 Österreicher:innen, vor allem Wiener:innen, und die brauchen nicht an 60 verschiedene Orte zu fliegen, um dieselbe Anzahl an Chagall- oder Monet-Werken zu sehen. Sie brauchen nur in die Albertina zu gehen.

Marc Chagall, Selbstbildnis, 1914, 50,5 x 38 cm, Kunstmuseum Basel, Inv. Im 1081, Stiftung Im Obersteg, Depositum im Kunstmuseum Basel, 2004, Martin P. Bühler © Bildrecht
P: Was die quantitative Expansion betrifft, sind die Zahlen beeindruckend: Ausstellungsflächen mehr als verzehnfacht, Besucherzahlen über eine Million jährlich …
KAS: 1,3 Millionen zählen wir heuer. Das sind fast 10.000 % mehr als vor 25 Jahren. Es gibt kein zweites Museum weltweit, das so eine Steigerung der Besucher:innenzahlen aufweist.
P: Die Ansprüche des Publikums an ein Museum haben sich geändert. Auch das Verständnis der Kunst gegenüber, wenn ich speziell an religiöse und mythologische Motive denke. Genderthemen, Postkolonialismus sind virulent geworden. Wie sind Sie damit umgegangen?
KAS: In den letzten zehn, maximal 15 Jahren hat sich die Institution Museum mehr verändert als in den 250 Jahren zuvor. Das hängt mit der Globalisierung der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Kultur zusammen, damit, dass der Kanon eines enzyklopädisch angedachten Museums uns auf einmal seine beengte eurozentrische Sicht zeigt, die nur weiße Männer berücksichtigt. Großartige weiße Männer von Michelangelo über Rubens bis zu Picasso, aber keine Künstlerinnen, ganz zu schweigen von Afrikaner:innen oder Aborigines aus Australien. In der bildenden Kunst spiegelt sich heute die Perspektive chinesischer, indischer, amerikanischer, südafrikanischer Besucher:innen wider. Dazu kam im 21. Jahrhundert dieser die Vergangenheit verdrängende Druck der Gegenwart. Das bedeutet, dass das Museum sich vollkommen neu aufstellen musste. Der Anspruch und die Bildung des Publikums sind sicher generell höher als je zuvor. Einen herrlichen Tizian, einen Bruegel, einen Rubens in einer Schausammlung zu bewundern, genügt nicht mehr. Man will eine Geschichte erzählt bekommen, Zusammenhänge geliefert bekommen.
Ein Adrian Ghenie erschüttert mich. Aber eine Madonna, die in den Himmel fährt, umgeben von staunenden Aposteln, ist vielleicht gut gemalt, hat jedoch mit meinem Leben nichts mehr zu tun.
P: Aber ein Teil des Publikums versteht diese Geschichten nicht mehr.
KAS: Ich würde es andersrum sagen: Alte-Meister-Geschichten sind nicht mehr so relevant wie sie es einmal waren. Die Aufgabe des Museums ist ja nicht, etwas zu zeigen, das nur Spezialist:innen für wichtig und bedeutsam halten. Das Publikum entscheidet, was es aktuell für relevant hält. Kunst muss brisant sein. Immer schon ist bestimmte Kunst weggebrochen und hat gerade nicht zur Gegenwart gesprochen. Erhalten wir Sie trotzdem? Selbstverständlich, über Jahrhunderte und Jahrtausende hoffentlich, wenn die Menschheit zur Vernunft kommt. Aber nicht jede Kunst ist zu jedem Zeitpunkt der Geschichte gleich relevant und gleich aktuell.
P: Sie haben das Museum ins 21. Jahrhundert geführt – was davon wird bleiben, was sich verändern, vielleicht auch wieder verschwinden?
KAS: Wirklich stolz bin ich auf unser Ausstellungsprogramm, das die Menschen bewegt. Sehr zufrieden bin ich, dass wir rechtzeitig erkannt haben, dass auch zeitgenössische Kunst keineswegs ein Minderheitenprogramm sein muss. Als wir 2003 Dürer gezeigt habe, hatten wir 550.000 Besucher:innen. Davon hatten über 90 Prozent auch die zeitgleich gezeigte Günter Brus-Retrospektive gesehen. Es ist uns gelungen auch Brus Rainer, Lassnig, VALIE EXPORT zu vermitteln. Darauf können alle Mitarbeiter:innen der Albertina stolz sein. Es ist ihre Leistung, ihr Verdienst, ihre Erfahrung und ihr jeweiliges Spezialwissen, das diese Erfolge ermöglicht hat.
Was wird bleiben? Niemand wird die Prunkräume rückbauen und die Originalausstattung wieder veräußern. Die Sammlungen, um die wir die Albertina erweitert haben, werden, wie die neuen Standorte, oder der Hollein-Wing bleiben. Was wird sich unter meiner Nachfolge ändern? Wahrscheinlich das Programm. Was man mit diesen gewaltigen Sammlungen, mit den räumlichen Ressourcen macht, die ich diesem Museum verschafft habe, das wird sich ändern, weil sich die Zeit und mit ihr die Kunst, die Gesellschaft ändern. Eine Ausstellung ist im Idealfall eine materialisierte Antwort auf die Frage, was kann diese Kunst heute für mich leisten.

Jeanne und Donald Kahn Galleries, © Albertina, Wien