JAZZ: Impulsiv, Improvisiert und stark Performativ
Am Ende ihrer künstlerischen Leitung der Kunsthalle Wien holen WHW noch einmal richtig aus: Mit neuen Arbeiten reagieren Rene Matić und Oscar Murillo ortspezifisch und hochsensibel auf Wien und seine Kunsthalle. Eine Empfehlung.
„Unsere Konversation hatte gleich einen Rhythmus, es war Jazz“
Im Juni übernahm Michelle Cotton die künstlerische Leitung der Kunsthalle Wien vom aktuell führenden Kollektiv What, How & for Whom, kurz WHW, bestehend aus Nataša Ilić, Ivet Ćurlin und Sabina Sabolović. Bevor es allerdings so weit war, beglückten sie Wien noch mit einer sehenswerten Dialogschau von Rene Matić (*1997, UK) und Oscar Murillo (*1986, Kolumbien).
Matić war bereits 2023 in Wien zu Gast, auf Einladung des Kunstverein Gartenhaus. Ebendort von WHW entdeckt, entstand der Gedanke eines Zusammenspiels mit Oscar Murillo. Beide leben in London und hätten, so WHW, in ihren Praxen viele Überschneidungen, etwa eine „spontane, intuitive, unaufgeregte und stark gestische Herangehensweise“. Davon leitet sich auch der Ausstellungstitel ab: „Jazz“ – impulsive, improvisierte, oft stark performative Musik. Auch das Gemeinsame und Kollaborative wird im Titel angedeutet und in der Ausstellung sofort deutlich. Wie aus einem Guss bespielen Rene Matić und Oscar Murillo die große obere Halle des Ausstellungshauses.
„Unsere Konversation hatte gleich einen Rhythmus, es war Jazz“, beschreiben die beiden Künstler, die sich vor der gemeinsamen Einladung nicht persönlich kannten, die Zusammenarbeit, die sich über viele Monate entwickelte.
Entstanden ist eine theatrale Kulisse mit zahlreichen Akteuren. Komplett in Schwarz getaucht konstruiert Murillo mit überdimensionalen, von der Decke abgehängten Leinwänden die Raumarchitektur. Das Ausstellungssetting wird zur Metapher – denn die Dunkelheit ist ein wichtiger Rückzugs- und Schutzort für marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die am Rande der Gesellschaft leben. Ihnen widmen die Künstler diese Schau, in der sie um die Frage kreisen: Wer sind die gegenwärtigen Opfer von Rassismus, Ausgrenzung und (medialen) Vorurteilen?
Von Murillos Raumarchitektur bis zu Matićs historischer Reflexion
Zu sehen sind neue und ältere Arbeiten, die gleichsam von Murillos dunkler Raumarchitektur gerahmt werden. Die Bandbreite der Medien umfasst Objekte, Foto-, Film- und Audioarbeiten, in denen die Künstler jeweils unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Zur technischen Vielfalt kommt inhaltliche Breite: Großflächig werden Fragmente von Murillos Gemeinschaftsprojekt „Frequencies“ gezeigt, für das er weltweit Tische in Schulen mit Leinwänden überzieht, auf denen Schüler frei kritzeln können. Rene Matićs neue Auftragsarbeiten kreisen hingegen um eine historische Wien-Episode, die tief blicken lässt: 1928 sollte Josephine Baker im Wiener Ronacher auftreten, was für maßlose Empörung bis ins Parlament sorgte. Es wurden Sondergottesdienste organisiert, negative Schlagzeilen geschrieben und der Solo-Auftritt letztlich verboten. Nun tanzt Matić symbolbehaftet an Bakers Stelle in Wien in einem Videoclip und thematisiert dabei das Schwarzsein ebenso wie körperliche Sexualisierung, Vorurteile gegenüber der Unterhaltungskultur und individuelle Freiheit.
Streift man durch die harmonisch dialogisch ausgestalteten Ausstellungsnischen, wird man immer wieder von Kirchenglocken, die als Audiospur laufen, aufgerüttelt – Marginalisierte können nie ganz zur Ruhe kommen, wird hier rasch deutlich. Murillo musste bei der Idee, in Wien auszustellen, zunächst an Sigmund Freud denken, sein Leben im englischen Exil und was es bedeutet, verfolgt zu werden. Der Widerstand als universelle Wahrheit sollte ein gemeinsamer Gedanke der Schau sein, so der Künstler. Dafür werden auch ältere, noch nie gezeigte Arbeiten bedient wie „Maria Virgelina Murillo“, eine Hommage an die Mutter Oscar Murillos, die als Fabriksarbeiterin mit rassistischer und klassenbezogener Ausgrenzung und Ausbeutung konfrontiert war.
Dafür lassen sie genug Raum. Die Inszenierung hat sakrale Intensität und ermöglicht im Dialog mit den präsentierten Arbeiten auch eine intime Innenschau. Außerdem gelingt der Ausstellung, was im Duo oft nicht einfach ist – Authentizität und gleichberechtigte Stimmkraft. Während Rene Matić noch am Karrierebeginn steht, hat Oscar Murillo bereits die Höhen und Tiefen der Kunstwelt und vor allem des Kunstmarktes durchleben müssen. Nach dem großen Hype haben seine Werke stark an Wert verloren, konnten sich zuletzt, wie Artnet berichtet, bei Auktionen oft gar nicht verkaufen. Die wirksame Präsentation in Wien setzt dem ein starkes Zeichen entgegen und beweist, dass die Verkäufe oder eben Nicht-Verkäufe von Kunst oft wenig mit guten Ausstellungen zu tun haben.
Kunsthalle Wien
Museumsquartier
Museumsplatz 1
1070 Wien
Österreich
Rene Matić / Oscar Murillo. JAZZ.
bis 28. Juli 2024