Im Gespräch mit Kuratorin Xue Tan
Seit Juni ist Xue Tan die neue Hauptkuratorin am Haus der Kunst. Als Gründungsmitglied von Tai Kwun Contemporary in Hongkong bringt sie jahrelange Erfahrung in der Entwicklung eines institutionellen Profils mit.
PARNASS: Wie hat sich die Kunstszene in Hongkong verändert?
XUE TAN : Die Kunstökologie und die Infrastruktur sind in Hongkong heute ganz anders. Die Eröffnung des Museums M+ vor drei Jahren, des wahrscheinlich ambitioniertesten Museumprojekts des 21. Jahrhunderts, war ein wichtiger Meilenstein in Asien. Das Tai Kwun Contemporary bietet ein lebendiges öffentliches Programm im Herzen der Stadt an und der Eintritt ist kostenfrei. Auch andere unabhängige Kunsträume wie Para Site und die lokalen Galerien Empty Gallery, Blindspot oder PHD Group zeigen ein unglaubliches Programm. Natürlich spielt auch die Art Basel Hongkong eine wichtige Rolle für den Markt. Ich bin optimistisch und hoffe, dass Hongkong das Zentrum für Kunst und Kultur in Asien bleiben wird.
P: Welche Unterschiede sehen Sie im Vergleich der Institutionen im asiatischen und deutschsprachigen Raum?
XT: In den letzten Jahren hat sich das Publikum von Kulturprogrammen in Hongkong stark verjüngt, 80 Prozent der Besucher sind unter 50 Jahre alt. Viele Programme sind experimentell und interdisziplinär. Früher herrschte die falsche Vorstellung, zeitgenössische Kunst sei unzugänglich und luxuriös. Es bedurfte einiger Bemühungen, diese Barriere zu durchbrechen. Ich denke viel über die Erfahrungen der Besucher und das gemeinsame voneinander Lernen nach. Das ist meiner Meinung nach eine wichtige Philosophie, um die es bei jeder institutionellen Arbeit geht. Ich bin oft nach Europa gereist und habe die besten Ausstellungen insbesondere im deutschsprachigen Raum gesehen. Die Münchner Kunstszene halte ich international für unterschätzt.
P: Was nehmen Sie von Tai Kwun Contemporary mit?
XT: Wir haben Tai Kwun Contemporary als eine Kunsthalle positioniert, die keine eigene Sammlung besitzt. Was wir am besten konnten, war, Künstlern die Möglichkeit zu geben, neue Werke zu schaffen. Unsere Ausstellungen haben viele wichtige Themen unserer Zeit wie Gender, Ökologie und Technologie sowie Live-Kunst und Performance aufgegriffen. Tai Kwun befindet sich in der früheren Polizeistation des Gebäudekomplexes des ehemaligen Victoria Prison, das vor 160 Jahren von den Briten errichtet wurde. Auf seine Art ist es ein historisch schwer belasteter Ort, wie auch das Haus der Kunst. Wir müssen uns jeden Tag mit der Geschichte auseinandersetzen.
P: Was bedeutet das für Ihre zukünftige Arbeit am Haus der Kunst?
XT: Hier hat das Programm der vorherigen Direktoren immer die Geschichte gewürdigt. Mit der Anerkennung der Geschichte aktivieren wir ein Programm, das offen für Diskussionen ist. Eines der wichtigsten Programme, die ich in Hongkong etabliert habe, drehte sich um Live-Formate, Performance und Medien. Zu dieser transdisziplinären Praxis möchte ich im Haus der Kunst weiter beitragen. Außerdem möchte ich es als einen Raum der Bewegung und nicht nur der Objekte denken. Ich glaube, es gibt ein gemeinsames Anliegen, wenn es um die Frage geht, was Kunst für unsere Gesellschaft tun kann.
P: Warum sind Fragen über Nachhaltigkeit und Ökologie für Sie wichtig?
XT: In den letzten Jahren gab es eine Welle von Ausstellungen zum Thema Ökologie, oft auch in Verbindung mit indigenen Praktiken oder der Frage, wie wir uns zur Kosmologie eines Ortes verhalten. Es geht darum, verschiedene Geografien und Wissensformen zusammenzubringen, um zu verstehen, wie wir auf diesem Planeten leben. Das ist der Kern meines kuratorischen Denkens. Wie kann man Nachhaltigkeit in die Praxis einbringen? Sie muss von Anfang an in jedes Projekt integriert werden. Ich denke immer, es wäre ein Traum, eine Ausstellung kohlenstoffneutral zu produzieren.
P: Wird Performance in Zukunft einer Ihrer Schwerpunkte sein?
XT: Live-Formate sind ein zentraler Schwerpunkt meiner kuratorischen Arbeit. In Hongkong habe ich das erste und einzige Live-Programm im kunstinstitutionellen Bereich in Asien etabliert. Für die Künstler ist eine solche Ausstellung ein Schaffensprozess, der das Denken und die Arbeitsmodelle der Institutionen in Frage stellt. Ich liebe die Offenheit und den prozesshaften Charakter von Live-Werken, da sie den Besuchern transformative Erfahrungen vermitteln. Sie erfordern aber auch viel Sorgfalt und Arbeit.
P: Der zeitgenössische Kunstdiskurs ist aufgrund politischer Konflikte und der Cancel Culture sehr aufgeheizt. Was ist Ihrer Meinung nach die Rolle der Kunst in diesen Zeiten?
XT: Jeder Ort, jedes Land hat seine eigenen Probleme und Schwierigkeiten. Wir versuchen damit umzugehen, ohne Gemeinschaften zu polarisieren. Für mich sind Kunstinstitutionen heute deshalb so wichtig, weil sie die einzige Gelegenheit bieten, bei der Menschen zusammenkommen und sich öffnen können. Natürlich braucht es dazu konstruktive Werkzeuge und Vermittlung. Zeitgenössische Kunst bringt unterschiedliche Kontexte und Wissensformen in die Gesellschaft ein, die sonst im Bildungssystem übersehen werden würden. Museen sollten offene und sichere Orte sein, an denen Menschen Ideen und Meinungen austauschen können. Wir bemühen uns auch um ein Verständnis für Meinungsverschiedenheiten.