Heinz Gappmayr zum 100. Geburtstag

Am 7. Oktober wäre Heinz Gappmayr hundert Jahre alt geworden. Diese Würdigung richtet den Blick auf einen Künstler, dessen Werk weit mehr Aufmerksamkeit verdient als ihm bislang zuteil wurde, einen der einflussreichsten Köpfe der österreichischen Nachkriegskunst, zugleich präzisen Denker und unermüdlichen Kommunikator. Dass sein Œuvre nun in Innsbruck wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt, im Stadtraum organisiert vom Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum und parallel in der Galerie Widauer, ist bedeutend. Längst überfällig bleibt eine institutionelle Auseinandersetzung, die der Komplexität seines Schaffens gerecht wird und sein Werk in eine nachhaltige museale Erinnerung überführt. Für PARNASS reflektiert Kunsthistoriker und Kunsthaus Bregenz Direktor Thomas D. Trummer zum 100. Geburtstag das Œuvre von Heinz Gappmayr und die aktuelle Ausstellung in der Galerie Johann Widauer in Innsbruck.
In der Galerie Widauer begegnet eine Wandarbeit, die zunächst schlicht erscheint. Drei Wörter auf weißem Grund, übereinander gesetzt, „luft – wasser – erde“, zwischen den ersten beiden ein weiter Abstand, das vierte Element „Feuer“ bleibt ausgespart. Dieses Fehlen ist keine Lücke, kein Versäumnis, sondern Hinweis auf Gappmayrs präzise Auffassung vom Bild, das sich weniger an naturphilosophischer Vollständigkeit orientiert als an der Wahrnehmung der Bedingungen, unter denen etwas sichtbar wird. Die Anordnung lässt sich lesen wie die Reduktion eines Landschaftsgemäldes auf seine sprachlichen Partikel. „Wasser“ breitet sich vom Ufer der „Erde“ aus, darüber die unbewegte „Luft“, zu sehen ist nicht der Himmel, sondern die blanke, weißgetünchte Fläche.
In dieser Kargheit spiegelt sich eine Weite, die sich in Sprache größer denken lässt als in der Malerei. Ein Wandbild, das in seiner formalen Strenge an Caspar David Friedrich erinnert, nur dass hier nicht Farbe, sondern Begriffe selbst zum Medium werden und die Leere zwischen ihnen zum Gestaltungselement wird.

Ausstellungsansicht Heinz Gappmayr, Galerie Johann Widauer, 2025, Courtesy of Galerie Johann Widauer, © Nikolaus Schletterer
Gappmayrs „Stille“ zielte nicht auf Akustik, sondern auf Semantik.
Gegenüber befindet sich eine zweite Wandarbeit. Das Wort „Stille“ wird unablässig wiederholt, bis ein quadratisches Feld entsteht. Hier tritt Gappmayrs Herkunft als Schriftsetzer hervor, sein Gespür für Lettern, Abstände und das autonome Eigenleben der Typografie. Schon früh, ab den beginnenden 1960er-Jahren, experimentierte er mit der Schreibmaschine, die ihn auf Zeichen und Blattmaß verpflichtete. Gerade diese Begrenzung verwandelt er in poetische Konfiguration. Nicht allein die Füllung des Formats wird zum Thema, sondern auch die Leerstelle, das Unterbrechende, das Intervall, das Ungesagte.
John Cage, mit dem Gappmayr gemeinsam ausstellte, war seit den 1950er-Jahren zum Künstler der geleerten Form geworden, auch er ordnete Lettern, etwa für das Design seines Buches „Silence“. Doch während Cage dem Hören verpflichtet war, blieb Gappmayr der Bedeutung zugewandt. Seine „Stille“ zielte nicht auf Akustik, sondern auf Semantik. Ein Wort, das sich vervielfältigt, zerfällt und zugleich neue Referenzen eröffnet, meditativ wie ein Verstummen in endloser Wiederholung, beharrlich wie das Getöse eines unstillbaren Schweigens, ein Schweigen, das Form, Inhalt, Ort und Raum des Denkens zugleich bestimmt.
Die Ausstellung zeigt frühe Textarbeiten, Einladungskarten für Präsentationen im Stedelijk Museum und weiteren internationalen Institutionen, die der konkreten Kunst näher standen als die meisten österreichischen Positionen der Zeit. Erwähnt sei die Widmung von Lawrence Weiner, einem engen Freund Gappmayrs, der die Textarbeit „HOLZ FÜR HEINZ“ entwarf, Zeugnis der Vernetzung und gegenseitigen Anregung im Kontext der internationalen Konzeptkunst.
Bereits in den frühen 1960er-Jahren begann Gappmayr, einzelne Wörter auf Papier zu tippen, besonders das Wort „sind“, das wie ein Schlüssel wirkt, um die philosophische Debatte über Sein, Identität und Sprache zu verschieben. Nicht allein Ontologie steht hier infrage, sondern die Vereinzelung von Sinn, die Isolation der Wörter, die sich in ihren elementaren Partikeln auflösen und gerade darin zum Bild werden, nicht als Abbild, sondern als sichtbare Grammatik.

Ausstellungsansicht Heinz Gappmayr, Galerie Johann Widauer, 2025, Courtesy of Galerie Johann Widauer, © Nikolaus Schletterer
Gappmayrs Bilder sind eine Einladung zum gedanklichen Nachvollzug. So werden die Betrachter:innen Teil eines Experiments, in dem das Sehen lernt, sich selbst zu beobachten.
Gappmayr arbeitet dort, wo das Bild selbst fragwürdig wird. Seine Werke sind keine Abbilder, keine Erzählungen, keine Ausdrucksgesten. Während in der langen Tradition der Kunstgeschichte das Bild Spiegel oder Fenster war, richtete sich bei Gappmayr der Blick nach innen. Das Bild verweist nicht auf eine andere Wirklichkeit, sondern zeigt, dass es selbst eine Wirklichkeit eigener Art ist, eine Ordnung, eine Kombination von Zeichen, in der Sinn sich durch Formgebung und ikonografische Konvention entfaltet. Wie Wittgenstein in seinen Sprachspielen zeigte, liegt Bedeutung nicht im Wesen der Wörter, sondern im Gebrauch. Analog legt Gappmayr offen, dass Bilder keine verborgene Essenz besitzen, sondern durch Regeln Sinn erhalten. Seine Arbeiten sind Grammatikübungen im Territorium des Visuellen, kein Spiegel der Welt, sondern ihre syntaktische Fassung, Reflexionen über die Bedingungen des Verstehens selbst.
Besonders deutlich wird Gappmayrs Einspruch gegen die Vorstellung des Ausdrucks. In der abstrakten Malerei nach 1945 galt das Bild als Spur des Inneren, Abdruck des Subjekts. Unter den Zeitgenoss:innen waren Informell und abstrakte Expression verbreitet. Doch Gappmayr zeigte, dass auch diese Formen des vermeintlich Unkontrollierten kulturell kodiert sind. Jede Spur setzt ein Subjekt voraus, jede Spontaneität folgt Regeln, selbst der Zufall ist Konvention, jede eruptive Geste folgt einer zuvor entwickelten Syntax.
Die Auseinandersetzung mit der Performance der anderen und die Einsicht in das Bild als Aufforderung zur Lektüre eröffneten Gappmayr den Blick auf die Bedingungen der Bildwahrnehmung als Geschehen. So rückte die Zeit in den Mittelpunkt. Jedes Blatt ist Raum in der Fläche, die sich sukzessiv erschließt, jedes Sehen ein abtastendes Lesen. Der visuelle Nachvollzug des Bildes erfordert eine Aufmerksamkeit in der Zeit, der Zeilenvorschub der Schreibmaschine die Vorstellung eines Nacheinander, das zugleich ein Hintereinander ist. Phänomenologie bedeutet das Vernehmen des Seins als Zeit.

Heinz Gappmayr, "ist wird" (1969) an der Fassade der Hofkirche, Foto © Johannes Plattner
Dabei setzt Gappmayr konsequent auf Reduktion. Sein minimaler Mittelgebrauch erschließt sich aus der Einsicht, dass Schwarz und Weiß, klare Kuben und neutrale Geometrien die Wahrnehmung für jene Bedingungen schärfen, die das Kunstwerk definieren. Sie wären missverstanden als asketische Entscheidung. Vielmehr sind seine Bilder eine Einladung zum gedanklichen Nachvollzug. So werden die Betrachter:innen Teil eines Experiments, in dem das Sehen lernt, sich selbst zu beobachten. Die Erfahrung ist weniger überwältigend als klärend, weniger emotional als kognitiv, oft begleitet von leiser Ironie und der Lust am Verstehen.
Nicht die Dinge, nicht das Abbild, nicht das Genie stehen im Mittelpunkt, sondern die Voraussetzungen, die all dies erst ermöglichen.
Hier schließt sich der Kreis zur visuellen Poesie, die seit Apollinaire Sprache in den Raum der Kunst überführt wurde. Doch während dort Literatur ins Bild drängte, zeigte Gappmayr die Sprachlichkeit des Bildes selbst, seine grammatischen Figuren und visuellen Konfigurationen. Heinz Gappmayr erweist sich so als einer der konsequentesten Vertreter der sprachlich verfahrenden Kunst in Österreich. Seine Werke wiederholen, was Kant im Denken unternahm, eine Kritik der Bedingungen. Seine Arbeiten sind stille, klare Hinweise darauf, dass jedes Bild ein Problem ist, und dass die eigentliche Pointe darin liegt, diese Problematik nicht zu lösen, sondern erfahrbar zu machen.

Heinz Gappmayr, 2007, Foto: Johann Widauer
