Meisterwerke #12

Frida Kahlo: Ich, der Hirsch

Sie ist 39 Jahre alt, hat 32 Operationen hinter sich, lebt mit starken Schmerzen, einer beschädigten Wirbelsäule sowie einem verkürzten Fuß. „Venadito“ – kleines Reh – ist einer von Frida Kahlos Spitznamen und sicher hat die mexikanische Künstlerin die Bibelstelle „alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch“ (Jes 35:6) im Hinterkopf, als sie 1946 ihr Selbstporträt als „verwundeter Hirsch“ vollendet.


Andere hätten sich darauf frei und losgelöst, als agiles sprunghaftes Wildtier präsentiert. Fridas Hirsch verwandelt sich jedoch in ein traumhaftes Abbild ihrer Lebenswirklichkeit, in ein Seelentier von Erlebtem und Erleidetem. Wie der Heilige Sebastian ist das androgyne Mischwesen mit Fridas Konterfei von Pfeilen durchbohrt worden, Blut rinnt aus den Wunden. Die blattlosen Bäume bieten dem „König der Wälder“ keinen Schutz mehr, verengen sich vielmehr zum Gefängnis ohne Ausweg und beobachten als stumme Zeugen das rituelle Schauspiel. Der Seelenführer, der sonst den Suchenden den Weg aus dem Dickicht weist, ist in ebendiesem eingesperrt. Fluchtmöglichkeiten gibt es für das scheue Tier keine mehr, in allen Richtungen lauert der Tod. Abgebrochene Äste zeugen von Fridas Unvermögen Nachwuchs zu bekommen, über der Unendlichkeit des Meeres zucken dramatische Blitze auf, selbst der junge blühende Zweig im Vordergrund deutet ein mexikanisches Bestattungsritual voraus.

Der verwundete Hirsch/Der kleine Hirsch/El venado herido

1946

Frida Kahlo, 1907 bis 1954, Coyoacán, Mexiko-Stadt

Stil: Surrealismus

Technik: Öl auf Masonit

Format: 22.4 cm x 30 cm

Heute: Collection of Carolyn Farb Houston, Texas, U.S.A.

Einsam und verletzt: Eine tragische Ikone

Nur 22,4 x 30 Zentimeter misst diese surreale Ikone, die stark an Gemälde der italienischen Frührenaissance erinnert und die gleichzeitig mit christlichen, buddhistischen und präkolumbianischen Symbolen aufgeladen ist. Neun Bäume begrenzen diese klaustrophobische Welt zur Linken, neun Pfeile haben den Hirsch getroffen, neun Enden zeigt sein Geweih. Frida selbst wurde am 9. Tag des aztekischen Kalenders geboren, in der Kabbala steht die Neun für Einsamkeit, während die Zahl bei den Mayas zum Paradies und zur Unterwelt gleichermaßen führt.

Und in diesem Sinne ist auch der „verwundete Hirsch“ ein Wesen des Übergangs. Zwar spricht der Blick des hybriden Tiers noch von Würde und Stolz, Unverwundbarkeit und der Kraft des Glaubens - doch der leichtfüßige Wahrheitsbringer der Kunstgeschichte offenbart auch hier die erdrückende Realität: Fridas Umwelt ist abgestorben, allgegenwärtig sind ihre Wunden, der Tod längst nahe Gewissheit. Ende und Erneuerung, Sterben und Widergeburt sind in diesem Bild enge Verwandte, „der verwundete Hirsch“ somit vielleicht der wahrhaftigste Ausdruck ihrer Leidensfähigkeit.

Frida Kahlo: Heute gefeiert, im Leben nur gelitten?

„Carma“ schreibt sie bedeutungsschwanger in die untere linke Ecke des Gemäldes und schenkt das Bild noch im selben Jahr ihren Freundinnen Lina und Arcady Boitler zur Hochzeit. (Vielleicht weil der Hl. Sebastian Anfang des 20. Jahrhunderts auch als inoffizieller Heiliger der Homosexuellen gilt?) Auf eine Serviette hält Frida dazu noch fest: „Der Hirsch ging allein, traurig und sehr verletzt, bis er in Arcady und Lina die Wärme und ein Nest fand“.

Frida Kahlo, Selbstbildnis mit Dornenhalsband, 1940, Öl auf Leinwand, Collection of Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Nickolas Muray Collection of Modern Mexican Art © Banco de México Diego Rivera Frida Kahlo Museums Trust/VG Bild-Ku


 

Literatur

María Hesse: Frida Kahlo - eine Biographie. Insel-Verlag

2018 Ingrid Pfeifer (Hg.): Fantastische Frauen, Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Hirmer-Verlag, 2020

Monica Brown/John Parra: Frida Kahlo und ihre Tiere. Nord-Süd-Verlag, 2017

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