Meisterwerke #14

Edgar Degas – Tanzmeister

„Ein anständiges Mädchen hat einen Kopf und zwei Hände – und sonst nichts“, lautet Anfang des 20. Jahrhunderts eine gebräuchliche Redewendung. Auf Edgar Degas´ Bild aus der Sammlung der Albertina scheint sie Form anzunehmen. Oder ist es doch andersrum?


Alles scheint im Pastellton zu flirren, auf Umrisslinien wird verzichtet, nur wenige Punkte definieren die Tutus der beiden Tänzerinnen. Die Schärfe fehlt, so als wäre der Autofokus in Degas´ Kamera etwas zu nah eingestellt, der Weichzeichner hat die Konturen verwischt. Gibt es eine Beziehung zwischen den beiden Damen? Ist man Zeuge einer Probe oder doch einer Aufführung? Degas gibt darauf keine Antwort. Offensichtlich steht aber der gelbe Fächer im eigentlichen Fokus des Werkes. Ein spannender Farbkontrast, der an japanische Holzschnitte erinnert, lenkt den Blick weg vom eigentlichen Bildthema, den Balletteusen und entfaltet ein neues Kunstbewusstsein, fächert eine neue Epoche auf.

Zwei Tänzerinnen

Um 1905

Edgar Degas

1834 bis 1917, Paris

Stil: Impressionismus

Technik: Pastellmalerei

Heute: Sammlung Albertina

Kunstmarkt: 2008 erzielte die Papierarbeit „Tänzerinnen an der Stange“ bei Christie’s, London mehr als 17 Millionen Euro

Auch interessant: Degas war selbst Kunstsammler. In seinem Nachlass fanden sich über 1000 Gemälde und 4000 Drucke.

Edgar Degas, Zwei Tänzerinnen, um 1905, Sammlung Albertina

Degas schuf rund 200 Arbeiten zum Thema Ballett

Die sonst so eleganten Figuren scheinen in ihren Posen erstarrt. Nicht zierlich und elastisch, sondern starr und klobig wirken die Gliedmaßen. Die eigentliche Darstellung wird sekundär, die künstlerische Motivation ist in ihrem Gegenüber zu suchen.

Varieté́ und Revue, Soloauftritte freier Tänzerinnen in Salons und Museen prägen abseits der etablierten Musiktheater das facettenreiche Gesicht der schwungvollen Pariser Gesellschaft. Die strengen Choreografien der Ballette, die Kleidervorschriften der Inszenierungen gelten längst als Synonym einer festgefahrenen Vergangenheit. Freiheit nähert sich schrittweise, im Gewand des modernen Tanzes. Dabei wird nicht stilisiert von Position zu Position gewechselt – natürliche Körperbewegungen übertragen Gedanken in Gesten.

Ragtime, Boston Valse, Cakewalk oder Dixieland sind bereits über den großen Teich nach Europa geschwappt und entzünden ihr rhythmisches Feuer. Elitäre Tanzlehrer braucht es dazu auch keine mehr, die neuen Schritte lernt man durch Abschauen und Nachmachen.

Damals wie heute klingt der Abgesang der Epoche nach dem american way of life und suggeriert internationale Zugehörigkeit. Bewusst gibt man sich auf den Tanzböden der Unfeierlichkeit der Rhythmen hin, lacht dem steifen Pathos des Klassizismus und Historismus ins Gesicht. Das Neue, das Anders-Sein gefeiert, gelebt. Alles Steife ist den Modetänzen fremd, Chaos und Unordnung lauten ihre Prinzipien.

Edgar Degas, La Classe de danse, 1871 - 1874, Öl auf Leinwand, Musée d’Orsay   

Auf zum neuen Körperbild

Während Degas Tänzerinnen noch mühsam und lustlos ihre Positionen innervieren, weisen die Schritte des neuen Tanzes bereits nach vorne in Richtung Zukunft. Der Körper schwingt dabei nicht zur Musik, seine Bewegungen unterstützen die Melodie, umspielen die Linien und erklären die Weiblichkeit der freien Frau zur neuen Ästhetik.

Degas´ Tänzerinnen wedeln daher mit dem Fächer frische Luft in die Pariser Gesellschaft, ohne sich selbst aus diesem Korsett befreien zu können, sind farblich mit dieser Umgebung bereits verschmolzen. Den bahnbrechenden Schritt in Richtung Moderne und Zukunft müssen sie erst wagen. Statische Choreografien verleihen ihnen das Gefühl von Sicherheit, den Kontrollverlust des Neuen empfinden sie als Bedrohung. In grün gehalten, mit sanften Pastelltönen – wie es sich für die Kunst des Impressionismus gehört – zeigt Degas eine traditionelle Tanzstunde, hinter deren Bühnenvorhang jedoch eine zerbrochene Fassade lauert. Allein der gelbe Fächer lässt es erahnen: Es ist nur noch ein kleiner Schwenk hin zur Befreiung des Körpers, hin zur Wahrheit und in eine neue Zeit.

Edgar Degas, Zwei Tänzerinnen, um 1905 (Detail), Sammlung Albertina

Literatur:

Lillian Schacherl: Edgar Degas. Ballett und Boudoir. Prestel 1997

Edgar Degas/ Elfriede Friesenbiller (Hg.): Kleine Tänzerin – Sonette und Poeme. Brandstätter 1988

Henri Loyrette (Hg.): Degas à l’Opéra. Musée d'Orsay 2019

 

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