"Ich möchte die Menschen konfrontieren"

Dominique White im Porträt

 Dominique White in ihrem Studio in Todi, 2024, Foto: Zouhair Bellahmar

Dominique Whites (*1993 UK) präzise Objektforschung provoziert unsere einseitig konstruierte Gegenwart. Mit ausdrucksstarker Gestaltung und tief greifenden Überlegungen fordert die Künstlerin die Wahrnehmung von Blackness gekonnt heraus und scheut dabei auch nicht vor harscher Terminologie zurück. Nach einer Soloshow in London ist ihre Arbeit im Rahmen des Max Mara Art Prize nun in der Collezione Maramotti zu sehen. Lesen Sie das ganze Interview in der aktuellen Ausgabe 04/2024.


Das Vergessene auszugraben – das ist meine Passion.

Dominique White

 

PARNASS: Die Terminologien, die Sie verwenden, sind sehr wichtig für Ihre Arbeit. Im Katalog führen Sie den Begriff „Displacement“ ein – jeder Körper, der in einer Flüssigkeit schwimmt, verdrängt ein bestimmtes Volumen dieser Flüssigkeit. In diesem Zusammenhang habe ich mich gefragt: Wie wichtig ist die Neubesetzung und Erweiterung dessen, was wir als Geschichte wahrnehmen?

DOMINIQUE WHITE: In der Geschichte werden ständig Geschichten ausgetauscht. Uns wird nur eine bestimmte Perspektive erzählt, und so wird vieles durch die eine große Erzählung ersetzt. Ich suche immer nach dem Dazwischen, dem Verborgenen, dem Teil, der ersetzt wurde. Wenn ich Zugang zu einem großen Archiv bekomme, mache ich mich daran, all diese versteckten Geschichten, die fehlerhaft übersetzten Dokumente oder Berichte aufzuspüren. Das Vergessene auszugraben – das ist meine Passion.

Dominique White, split obliteration, 2024, © Dominique White, Foto: Dario Lasagni

Dominique White, split obliteration, 2024, © Dominique White, Foto: Dario Lasagni

P: Sie haben Ihre Objekte als „Bestien“ bezeichnet, der Guardian nannte sie „Monster“. Wenig verwunderlich, denn sie haben sehr organische Qualitäten. Ist das auch ein Verweis auf die Macht der Natur und die Kraft der Interaktion zwischen Objekt und Betrachter?

DW: Ich denke, es hängt davon ab, wer das Publikum ist und wie man mit diesen Geschichten oder Bildern – oder auch mit der Idee, dass Kunstwerke nicht mehr statisch sind – interagiert. Das ist etwas, was mich sehr interessiert: einem statischen Objekt Leben einzuhauchen und zu sehen, was das für die Interaktion mit ihm bedeutet.
Ich sage oft, dass ich die Museumssprache ablehne, wenn es darum geht, Kunst mit Sockeln und Barrieren zu zeigen – all diese Dinge, die das Kunstwerk vor den Betrachter:innen schützen sollen. Ich möchte sehen, was passiert, wenn man diese Machtdynamik umdreht, wenn man Schutz vor dem Kunstwerk braucht. Ich möchte, dass die Betrachter:innen fasziniert sind und wiederkommen wollen, um mehr zu sehen. Selbst wenn Sie das Werk nicht mögen, möchte ich, dass Sie einige Zeit damit verbringen, um herauszufinden, warum es Ihnen nicht gefällt und was Sie daran so beunruhigend finden.

Ich möchte die Menschen konfrontieren.

Dominique White

P: Sie spielen auch mit dem Verfall.

DW: Zum Beispiel wurde das Eisen nicht behandelt, seit es aus dem Meer kam. Wir haben es buchstäblich aus dem Meer gezogen, im Dock trocknen lassen und dann in mein Atelier transportiert. Es wird sich also weiter verändern. Wenn Eisen mit Meerwasser reagiert, dehnt es sich aus, in 100 Jahren könnte es eine völlig andere Form haben.
Für mich ist es viel interessanter, etwas zu verwenden, das bereits ein Leben hinter sich hat. Ich versuche, überall wohin ich reise, Segel zu sammeln, das sind oft zerschlissene Segel, die sich verdreht und verformt oder mit Schmutz, Staub und Salz verkrustet sind. Ich könnte eine Rolle Stoff kaufen, das wäre so viel einfacher. Aber es würde so etwas wie Stabilität in meine Arbeit bringen, und das würde sie kaputt machen.

Dominique White, the swelling enemy 2024, Treibholz, Eisen, Sisal, Raffiabast, Kaolin-Ton, Segel, Foto: © Above Ground Studio (Matt Greenwood)

Dominique White, the swelling enemy 2024, Treibholz, Eisen, Sisal, Raffiabast, Kaolin-Ton, Segel, Foto: © Above Ground Studio (Matt Greenwood)

Wir sprechen über den Weltraum und die Vorstellung von Leben auf anderen Planeten, ohne das Leben unter uns zu verstehen.

Dominique White

P: Welche Rolle spielt die aktuelle Flüchtlingskrise in Ihrer Arbeit?

DW: Ich denke, das ist immer miteinander verwoben. Meine Familie wurde in den 1950er-Jahren aus Jamaika und St. Lucia – beides damals britische Kolonien – ins Vereinigte Königreich gerufen, um die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte wieder aufzubauen. Die Menschen kamen also in Scharen in das „Mutterland“, nur um dann trotz ihrer „Legalität“ als Briten abgelehnt und ausgeschlossen zu werden. Wenn es keinen perfekten Einwanderer gibt, dann gibt es auch keine Möglichkeit, sich jemals vollständig zu assimilieren; wir werden immer „die Anderen“ sein. Andererseits ist „der Andere“ oder ein Feind vielleicht notwendig, damit das, was wir westliche „Zivilisation“ nennen, funktioniert.

Dominique White, dead reckoning, 2024, © Dominique White, Foto: Dario Lasagni

Dominique White, dead reckoning, 2024, © Dominique White, Foto: Dario Lasagni

Collezione Maramotti

Via Fratelli Cervi 66, 42124 Reggio Emilia
RE
Italien

Dominique White. Deadweight

bis 16. Februar 2025

Mehr Informationen

Das könnte Sie auch interessieren