Anne Schneider: In Empathie mit dem Material

Anne Schneider, 2019 | Foto: Benjamin Paya, ZONE Media.

Die Verleihung des Dagmar Chobot Skulpturenpreises 2019 im Leopold Museum war Anlass für den Besuch im Atelier der diesjährigen Gewinnerin. Anne Schneider hat laut Jury mit „formaler Präzision, Materialgespür, Abstrahierung und Haptik“ überzeugt.


Ihr Werk findet in Ausstellungen große Beachtung, erdacht wird es in Zusammenarbeit mit dem Material. Ihre Skulpturen – das ist die richtige Bezeichnung für ihre Arbeit, so Schneider – entstehen im Hinterhof inmitten eines kleinen Areals unscheinbarer Wohnhäuser im 17. Bezirk. Das Atelier ist eine ehemalige Garage. Der Hinterhof aus Beton. Beton das bestimmende Material. Die Betonmischmaschine ihr bevorzugtes Werkzeug. Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen? Ja, wenn auch ungewöhnliche: Schneider befindet sich im Dialog mit dem Material. Sie wartet seine Aggregatzustände ab, erlaubt sich Kontrollverlust zugunsten eines Zustands hoher Konzentration.

„Die Hand arbeitet dann schneller als der Verstand“, weiß sie. Hand made ist ein Teil der Idee, dem Material seinen Eigensinn überlassend der andere. Oberflächen, die wie glatt poliert erscheinen, entstehen über den bloßen Abdruck imprägnierter Stoffe: Die gelernte Archäologin erspürt, erkennt, legt frei und überlässt dann der Bildhauerin die Arbeit an der Skulptur. Sagt dann das Material, wie im Fall des imprägnierten Stoffes: „Hands off“, versteht die Künstlerin die Botschaft und fügt sich überzeugt. Solcherlei Gleichwertigkeit führt zum idealen Teamwork und die Empathie für die verwendeten Materialien zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Auf einem Niveau befinden sich auch sämtliche Stationen im Atelier. Die Bildhauerin schleppt Zementsäcke in den Hof zur Betonproduktion, wo sie die Skulpturen auch einfach abspritzen kann. Schneiders Venus aus fleischfarbenem Beton wurde dort geboren: Ein gesichtsloser Kopf, wie aus dem fehlenden Körper herausragend, hat den Gebärraum verlassen und ist seiner weiteren Entwicklung ausgesetzt. Unter der Glasdecke einer Vitrine, ausgeliefert und beschützt zugleich, war „Die Geburt der Venus“ in Willendorf im Zuge von publicart ausgestellt.

Im Atelier, durch Oberlichten geschützt sowohl vor Blicken von Außen als auch ablenkungsfrei davon, arbeitet Schneider am Raum, der Spannung im Raum, am Körper im Raum. Auch die ersten Wachsskulpturen, die Vorläufer der Beton-Pendel, bewohnen den Ort.

Anne Schneider, 2019 | Foto: Benjamin Paya, ZONE Media.

Anne Schneider, 2019 | Foto: Benjamin Paya, ZONE Media.

Ausgehend von einer Linie formte sie die Skulpturen über zwischen Decke und Boden verspannte Fäden zu langgestreckten Körpern und entwickelte daraus die Beton-Pendel: langgezogene Ausdehnungen auf Stangen, die Unendlichkeit andeuten und suggerieren. Die Senkrechte referiert auf den gesellschaftlich ausgereizten Menschen, der sich bis zum Anschlag dehnt. Die anthropomorphe Form ist Spiegel und Doppelgänger für Körperwahrnehmung, innere Zustände, Spannung und Dämonen, die es zu verarbeitet gilt.

Die Hand arbeitet dann schneller als der Verstand.

Anne Schneider

Das Auffinden der ersten Skulpturen erinnert an Schneiders Anfänge, an mit Gips überzogenen Schaumstoff. Der Weg zur typischen prägnanten Haptik führte zum stoffummantelten Beton und in Falten und Haut simulierende Skulpturenumhüllungen. Sie zeigen „wie innere Leere im Volumen wiedergegeben wird“ und verweisen auf die Gleichwertigkeit künstlerischer Materialien – Schneider lässt sich auch durchaus bei den Vertretern der Arte Povera verorten. Ihre Werkstoffe sind „logische Materialien, die einfach da sind, keine Belastung darstellen sowie stetes und einfaches Zugreifen ermöglichen.“

Schneider ist zudem Restbestandsverwerterin. Reste, vermeintliche Abfälle aus der eigenen Kunstproduktion, eröffnen neue Zugänge. Eine Erfahrung war die weit über die erwartete freie Verwendbarkeit von Beton: Aus der Schlacke der Betonproduktion ließ sie Stalagmiten wachsen, deren Farbigkeit der Materialüberzeugungsarbeit des pigmentierten Zements zuzuschreiben ist. Vieles landet aber auch im Müll aus einer momentanen Materialübersättigung gepaart mit dem Bedürfnis nach Raum und Leere. Schneider kennt den horror vacui als solchen nicht. Tabula rasa, den Wunsch neu anzufangen, schon. Die Auszeichnung kommt zur rechten Zeit. Reset, das Atelier wird entrümpelt, neu aufgestellt. Man darf gespannt auf neue Skulpturen warten.

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