Wie geht’s der Kulturnation?

Während des letztjährigen Nationalratswahlkampfs und im Zuge der unterschiedlichen Koalitionsverhandlungen spielte Kunst und Kultur eine wesentliche Rolle. Nicht nur, wer die Kulturagenden zugesprochen bekommen sollte, wurde heiß diskutiert. Mit Begriffen wie „Leitkultur“ und „Kulturnation“ wurde massiv Wahlkampf betrieben. Was steckt hinter diesen Begriffen, die offensichtlich für das Selbstverständnis der Nation Österreich wichtig sind?
Wir schulden großartigen Künstlern und Künstlerinnen, die Österreich geprägt haben, nichts. Wenn wir jemandem etwas schulden, dann sind es unsere Kinder, also die Jugend in diesem Land.
PARNASS hat mit Rudolf Scholten gesprochen, der in den 1980er- und 90er-Jahren als Generalsekretär der Bundestheater und danach für sieben Jahre als Kulturminister (1990–1997) im Mittelpunkt handfester (kultur-)politischer Auseinandersetzungen stand.
Rudolf Scholten beschreibt im Gespräch die ideologischen Wurzeln dieser Auseinandersetzungen und übt heftige Kritik daran. Aber er scheut auch nicht davor zurück, die Versäumnisse staatlicher Kunst- und Kulturvermittlung aufzuzeigen. Ein Gespräch über den Stellenwert von Kunst und Kultur in der Öffentlichkeit, den Status-quo aktueller Kulturvermittlung, Gefahren der Kulturpolitik und die Absetzbarkeit von Kunst.
PARNASS: Im vergangenen Wahlkampf und in den jeweiligen Koalitionsverhandlungen wurden regelmäßig die Begriffe „österreichische Leitkultur“ und Österreich als Kulturnation als Kampfparolen einer Ausgrenzung verwendet. Was steht Ihrer Meinung nach hinter diesen Begriffen?
RUDOLF SCHOLTEN: Den Begriff „Kulturnation“ würde ich auf einen simplen Punkt reduzieren: Wir schulden großartigen Künstlern und Künstlerinnen, die Österreich geprägt haben, nichts. Wenn wir jemandem etwas schulden, dann sind es unsere Kinder, also die Jugend in diesem Land. Wir stehen also in der Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen von Musiker:innen, Künstler:innen oder Literat:innen, denen wir die Grundlagen zur Arbeit und Realisierung ihrer Kunst ermöglichen müssen. Österreich als Entität schuldet Schubert, Mozart, Klimt oder Schiele nichts. Das Einzige, was wir übernommen haben, ist eine Art konservatorischer Verpflichtung. Das Einlösen einer Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen, die das auch erleben sollen. Es ist großartig, dass es diese Ikonen gibt. Jedoch empfinde ich den Ausdruck Kulturnation als arrogante Überheblichkeit und ein Heruntermachen anderer Gesellschaften, wenn es als spezifisch österreichisch ausgelegt wird. Es widerspricht allem, was in der Kunst gut und wichtig ist. Unser ständiges Berufen darauf finde ich schlicht lächerlich.

Foto: Roland Rudolph
P: Wenn wir Bezug nehmen auf die von Ihnen angesprochenen, zukünftigen Generationen, trat es in den vergangenen Legislaturperioden deutlich zu Tage, dass einer breiten Kunst- und Kulturvermittlung geringe Aufmerksamkeit zugesprochen wurde. Was lief hier Ihrer Meinung nach falsch und wie könnte das geändert werden?
RS: Also, wenn ich das auf einen Satz reduziere, dann würde der lauten, dass die Kunstvermittlung seit Jahrzehnten – bis auf wenige Beispiele – die Niederlage der Kunstpolitik ist. Inklusive meiner eigenen Zeit als Minister. Wir haben alle das bekannte Buch von Hilmar Hoffmann „Kunst für alle“ als Vermittlungsziel vor uns hergetragen – aber wir haben wenig erreicht.
P: Worauf führen Sie das zurück?
RS: Die erste Antwort ist, dass ich es nicht weiß. Wir haben uns ehrlich bemüht. Die zweite Antwort ist, dass wir das Ausmaß unterschätzt haben, wie sehr sich Kunst doch innerhalb einer – also heute würde man dann sagen – Bubble bewegt. Es sind ja Gott sei Dank sehr viele Menschen. Aber dennoch bewegt man sich in einem relativ leicht beschreibbaren sozialen Umfeld. Es gibt unendlich viele Einzelinitiativen zu dem Thema. Ich spreche da auch niemanden den guten Willen ab, aber den Erfolg. Die Wirksamkeit hält sich in Grenzen.
Unterschreiben ja, protestieren ja. Man sollte jedoch nicht das Gefühl entwickeln, dass es damit genug ist.
P: Sind Ihnen Ansätze oder Konzepte präsent, die da besser greifen würden?
RS: Ich habe zum Beispiel mit dem neuen Leiter vom Kunsthistorischen Museum, Jonathan Fine, wunderbare Gespräche geführt. Da ging es darum, dass ein Museum eigentlich eine Verführungsmaschine sein muss. Nahezu jeder kommt in seinem Leben irgendwann einmal in Wien ins Kunsthistorische. Einmal. Die Frage ist nun, wie überzeugend funktioniert diese Verführungsmaschine, um zu einem zweiten, dritten, vierten, fünften Besuch zu motivieren? Und da sind die meisten dieser Einrichtungen noch immer hermetisch. Ich weiß, dass Fine einen enormen Ehrgeiz hat, das zu verändern. Sein primärer Ansatz läuft tatsächlich unter Verführung. Besuche müssen eine Selbstverständlichkeit werden.
P: Wenden wir uns einem aktuellen Kulturproblem zu: Das Kunstforum Bank Austria steht mit Ende 2025 vor der Schließung. Wie sehen Sie die Auseinandersetzung rund um das Kunstforum?
RS: Es ist offensichtlich, dass ein privater Sponsor eine relativ labile Basis sein kann. Gerade in dieser Zeit. Über viele Jahre hat er dem Kunstforum jedoch Möglichkeiten geboten, die der Staat gleichzeitig in dieser Selbstverständlichkeit nicht hätte bieten können. Insofern war eine großartige Arbeit möglich. Aber es ist klar, dass man das Risiko einkalkulieren muss, dass ein Sponsor auch abspringen kann.
P: Denken Sie, dass das Kunstforum 2026 in dieser Form weiter bestehen wird oder dass man Adieu sagen muss?
RS: Also ich glaube, dass man in der Kunstpolitik eine andere Frage stellen muss: Gibt es in Wien einen Mangel an Ausstellungsflächen? Das ist ein entscheidender Punkt, den andere beantworten müssen. Wird das bejaht, dann hat man Möglichkeiten auszuloten, das Kunstforum zu prolongieren. Wenn man meint, dass unser Mangel nicht in zu geringen Ausstellungsflächen besteht, dann war es ein tolles Projekt. Aber es ist eben zu Ende gegangen.

Foto: Roland Rudolph
P: Denken Sie, dass öffentlicher Protest oder Protestbriefe bei gefährdeten Kultur- oder Kunstinstitutionen gegenüber Politiker:innen erfolgreich ist? Oder ist das ein routinierter Aufschrei?
RS: Eine schwierige Frage. Im Zweifelsfall ist es einfacher, zu unterschreiben als begründen zu müssen, warum man nicht unterschreibt. Ich würde all diesen Initiativen weder ihre Legitimation noch ihre Bedeutung absprechen. Lassen Sie mich es so formulieren: unterschreiben ja, protestieren ja. Man sollte jedoch nicht das Gefühl entwickeln, dass es damit genug ist. Damit ist nur die Basis geschaffen. Lediglich die Petition für den ORF, die von sehr vielen unterschrieben wurde, hätte den ORF nicht gerettet. Aber sie hat das Thema im Gespräch gehalten. Und darauf aufbauend, kann in Verhandlungen vieles passieren. Protestbriefe sind die Grundlage. Sie sind eine bequeme Form der Selbstberuhigung, aber sie lösen nichts.
Die Absetzbarkeit von Kunst öffnet Tür und Tor für Missbrauch [...].
P: Im Regierungsprogramm der jungen Regierung wird im Kapitel zur Kunst und Kultur unterstrichen, dass alternative Budgetmittelbeschaffung für Institutionen, Galerien oder Kulturinitiativen verstärkt unterstützt werden soll. Geht das Ihrer Meinung nach in die immer wieder diskutierte Forderung, Kunst steuerlich absetzbar zu machen? Auch um die relativ schwache Sammlerlandschaft in Österreich zu stärken?
RS: Die Absetzbarkeit von Kunst ist ein Minenfeld. Meiner Meinung nach würde es keine neue Sammlerkultur schaffen, sondern sie würde bestehenden Sammlern mehr Möglichkeiten bieten. Wir würden unter Umständen eine Sammlerkultur generieren, die steuerlich motiviert ist, was ich nicht für erstrebenswert halte. Ein anderer, für mich sehr bedeutender Punkt wäre, dass Sie im Augenblick, wo Sie den Ankauf von Kunst steuerlich absetzbar machen, definieren müssen, was Kunst ist. Und diese Kontrolle muss dann die Bürokratie leisten. Sie kennen so gut wie ich Beispiele abstrakter Kunst, wo dann von Menschen, die das nicht besonders schätzen, die handwerkliche Raffinesse bezweifelt wird. Und jetzt frage ich Sie, wenn ich Ihnen jetzt auf Ihr Papier ein schwarzes Quadrat aufmale und sage, ich hätte gern 20.000 Euro dafür, würden Sie auflachen und sagen, sicher nicht. Wenn ich Sie doch zum Ankauf bewegen könnte, soll dann der Finanzbeamte darüber richten, ob mein schwarzes Quadrat 20.000 Euro wert ist oder nicht? Vermutlich eher nicht? Aber unter Umständen akzeptiert er es als steuermindernde Investition. Kurzum, die Absetzbarkeit von Kunst öffnet Tür und Tor für Missbrauch, abgesehen von der für mich unsympathischen neoliberalen Komponente. Daher halt ich es für falsch. Ich verstehe, den Reiz des Arguments, aber ich glaube, dass es in der Praxis deutlich mehr Nachteile als Vorteile bringt.
P: Danke für das Gespräch.