Etwas abseits von Barcelona
Die Manifesta in der Metropolregion um Barcelona schafft es in ihrer 15. Ausgabe dringende ökologische und gesellschaftliche Fragestellungen nicht nur in die Wandtexte zu packen. Es sind die künstlerischen Arbeiten selbst, die nach Antworten suchen und in Kombination mit lokaler Geschichte zu einer sehenswerten Biennale verwachsen.
Direkt neben dem Flughafen Barcelona-El Pràt steht die modernistische Casa Gomis. Inklusive der Möblierung, die wie zum Wiedereinzug oder der Umwidmung in ein 60er-Jahre-Designmuseum bereitsteht, ist sie wohl für viele Manifesta-Besucher:innen einer dieser tollen Momente, wo alleine schon die Location die Anfahrt lohnend macht. Neben einer für dieses Haus 1966 in Auftrag gegebenen Xarparella, einer Arbeit auf Jute, von Magda Bolumar Chertó finden wir im Esszimmer ein zeitgenössisches Pendant in einer Textilarbeit von Gözde Ilkin. Chertós „Xarpellera für La Ricarda“ (1966) ist eine der für Chertó charakteristische Arbeiten mit Acryl und Draht auf Jute – und vielleicht eine der großen (Wieder-)Entdeckungen dieser Manifesta. Die abstrakten Verknüpfungen imaginierten Alternativen zur Lebensrealität im Regime Francos, ebenso wie der modernistische Bau selbst damals ein Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde war. Ilkins Arbeit passt auf vielerlei Ebenen hervorragend dazu – und stimmt ein auf den hohen Anspruch des kuratorischen Teams der Manifesta.
GÖZDE ILKIN IM GESPRÄCH
PARNASS: Gözde, deine Arbeit, deren Titel man vielleicht als ‚unzureichend verbundene Lücke‘ übersetzen könnte, ist von 2017. Ausgehend von Fotografien hast du zu dieser Zeit in einer größeren Serie „Devrik Ev“ Teile von Tischtüchern zusammengenäht – warum wolltest du gerade zwischen diesen Medien eine Verbindung herstellen?
Gözde Ilkin: Meine Arbeit hat sich aus dem Inneren des Hauses entwickelt, inspiriert von Orten, mit denen wir verbunden sind. Das Nachdenken über die Vorhänge und Stoffe meiner Familie ist zu einer Form der Transformation und Wiedergeburt der Vergangenheit geworden; ein tägliches Ritual des Sammelns, Anhäufens und Verarbeitens. Auf der Suche nach familiären Verbindungen jenseits der Kernfamilie entstand „Yetersiz Derz Boşluğu“. Die Arbeit ist inspiriert von einem Fund zwischen Familienfotografien; einer Abbildung aus einem Büro. Wir sehen darin eine Hierarchie, ähnlich den Beziehungen innerhalb einer Familie oder eines Haushalts. Männliche und weibliche Figuren, die in den ursprünglichen floralen Motiven des Stoffes versteckt sind, sind in der Sitzposition eines leitenden Angestellten gefangen, was Macht und Autorität repräsentiert. Die Figuren und Formen sind in den floralen Motiven des Stoffes verwurzelt und verfolgen die Möglichkeiten des Zusammenlebens und der verwandtschaftlichen Bindungen zwischen Mensch und Pflanze. Es symbolisiert die Partnerschaft und die gemeinsame Kraft von Mensch und Natur.
PARNASS: Die losen Fäden lassen im Stoff oft auch nochmals abstrakte Blüten wachsen.
GI: Es funktioniert tatsächlich gut, die losen Fäden zusammen mit dem floralen Muster der Tischdecke zu betrachten. Das Loslassen der Fäden war völlig zufällig, aber mir gefällt dieser Gedanke.
PARNASS: Wie siehst du deine Arbeit im Verhältnis zu dem geschichtsträchtigen Haus, in dem sie präsentiert wird?
GI: Die Casa Gomis, einer der Orte im Cluster „Balancing Conflicts“, wurde von Antoni Bonet i Castellana entworfen. In der politischen Atmosphäre der 1950er-Jahre diente sie sowohl als Familienhaus als auch als Zufluchtsort für Künstler, ein Ort des Treffens und der Produktion.
Dieses Haus vermittelt das Bild einer Zeit, in der Musik, Textilien und künstlerische Muster ineinander verwoben waren und von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Mit seiner Architektur und den Spuren des Lebens, das darin stattfand, trägt es die Zeichen der familiären Bindungen und Muster, die über die Kernfamilie hinausreichen und in die Sprache, Kultur und das Leben des anderen eingebettet sind. Durch die Einrichtung, den Außenbereich und die Gegenstände ist es wie eine Bühne, auf der wir die familiären Beziehungen sowie die wirtschaftlichen und soziopolitischen Strukturen einer Ära nachverfolgen können.
BESUCHE IM ABSEITS
Diese großartig gelungenen Verbindungen sind Teil dessen, was den Besuch dieser Manifesta so lohnenswert macht. So verstecken sich etwa Eva Chettles skulpturale Hybridwesen und -pflanzen einfach in der Sammlung des Naturhistorischen Museums in Granollers und stellen Fragen von Spezies und deren Entwicklung. Oder einem Hochaltar von 1411 wird in der Seu d’Egara, einem entlegenen Kirchenkomplex aus dem 5. Jahrhundert, eine Textilarbeit zur Kolonialgeschichte und Christianisierung Borneos von Marcos Kueh gegenübergestellt.
Ganz im Gegensatz zu einer solch durchdachten Einbettung, konnten wir den Nachrichten nur den Spruch „Tourists go home“ entnehmen und müssen fragen, wie sich die Manifesta gegenüber den Touristenprotesten zu positionieren versucht.
Die 15. Ausgabe der nomadischen Biennale möchte die Metropolregion um Barcelona erschließen und verbinden – nicht etwa, um den Tourismus dorthin zu bringen, sondern für die lokale Bevölkerung. Ob diese Ziele der Manifesta als Vision der Stadtentwicklung aufgehen, lässt sich wohl erst im Nachgang evaluieren. Jedenfalls ist man viel außerhalb des Stadtzentrums unterwegs und sieht viel mehr als es die drei eher generischen Titel Cure and Care, Balancing Conflicts und Imagining Futures erwarten lassen.
In Barcelona selbst sollte man das ehemalige Verlagsgebäude Gustavo Gili besuchen. Unübersichtlich wirkende Archivpräsentationen entpuppen sich hier als tolles Forschungsprojekt zur Geschichte und Repräsentation schwarzer Menschen in Spanien, das von Tania Safura Adam entlang der Manifesta-Cluster ausgebreitet wird.
„El Ictíneo y otras figuras políticas“ [Der Ictíneo und andere politische Figuren] von Fernando Sánchez Castillo entwirft hingegen Bildwelten zu Ereignissen aus Spaniens Geschichte, die ohne offizielle Ikonografie blieben – und könnte damit den Anfang für „Imagining Futures“ bilden. Claudia Pagès erforscht in ihrem 14-minütigen Video „Aljubs i Grups“ [Zisternen und Gruppen] zwei Zisternen: eine davon mit Graffiti seit dem 15.Jh, die andere mit zeitgenössischen Tags. Was mit eigenwilligem Sprechgesang und der Choreographie eines postmodernen Kults daherkommt, betont die Wichtigkeit die Relation zu unserer Vergangenheit und Ressourcen zu verstehen – und hinterfragt humorvoll Heteronormativität.
Das Cluster, das diese Fragen beantworten könnte, ist in einem aufgelassenen Wärmekraftwerk mit den namensgebenden drei Schornsteinen angesiedelt. Im Innern setzt, hinter den im Durchzug des offenen Fabriksgebäudes wehenden weißen Stoffbahnen von Asad Raza’s „Prehension“, die LED-Leuchtschrift „When women strike the world stops“ (2020) des italienischen Kollektivs Claire Fontaine die inhaltlich fokussierte Arbeit der Ausstellung fort.
Choi+Shine waren in den Monaten vor der Eröffnung vor Ort mit Bewohnerinnen tätig, um ihre „Urchins“ [Seeigel] (2024) in Metallgerüste zu knüpfen. Vielleicht weil einem der Zugang zum Meer durch einen Zaun verwehrt bleibt, bekommen diese aus Fischereigarn gehäkelten Strukturen eine sehnsuchtsvolle Bedeutung.
Die Muster wurden gemeinsam mit 120 lokalen Beteiligten gehäkelt und repräsentieren Spitze aus ganz Europa, insbesondere katalonischen Archiven. Mit der Referenz auf ein traditionell weiblich konnotiertes Material schließt sich der Kreis zu den in den Werkbeschreibungen betonten Protesten von Frauen gegen die Verschmutzung der angrenzenden Wohngebiete durch die Fabrik.
Zurück am Eingangsbereich des Areals verabschiedet sich ein Banner von Jeremy Deller: „Speak to the earth and it will tell you.“ Der aktivistisch anmutende Satz entpuppt sich als Bibelzitat (Hiob 12, 8): „Rede zur Erde, sie wird dich lehren, / die Fische des Meeres erzählen es dir.“ Nicht alle der Arbeiten lösen die Vorgabe des thematischen Clusters so direkt ein. Obwohl deren Titel nichts Neues versprechen, ist es immer wieder das enge Anbinden künstlerischer Arbeit an eine Geschichte vor Ort, die den aufgerufenen Diskursen doch etwas hinzufügen. Trotz der Kritik an der Idee, auch den Umkreis Barcelonas zu erschließen, die wir äußern könnten, ist es Filipa Oliveira mit dem kuratorischen Team gelungen, lokale Themen mit globalen Diskursen so zu verknüpfen, dass fast jede Arbeit sowohl internationalem als auch lokalem Publikum etwas Neues zu bieten hat. Dabei binden sie Künstler:innen und Forscher:innen aus der Region ein und die einzelnen Ausstellungen locken in beeindruckende Klöster, Fabriken und andere Orte, die einem ansonsten wohl entgehen würden – und an denen vielleicht auch so manche Bewohner:in der beteiligten Städte noch nie war. Die Manifesta ist in diesem Jahr vieles, was sie schon so oft versprochen hat: eine Vision für die Stadtentwicklung, eine Plattform für dringende Diskurse der Gesellschaft – und vor allem aber eine Ausstellung, die all das über die Kunst verhandeln kann.