vom Schnipsel zur Collage

All Eyes on Paper Positions

Lisa Tiemann, COUPLE (V) XIX, 2024, glasierte Keramik, Papiermaché, 45 × 40 × 46 cm, Foto: Eric Tschernow, Courtesy SCHWARZ CONTEMPORARY

Im November fand im Wiener Kursalon Hübner erstmals die paper positions statt, eine Messe, die das Material Papier in all seinen Facetten in den Fokus stellt, von der Zeichnung bis hin zum Objekt. Aus diesem Anlass stellen wir einige Künstler:innen vor, die ihre dreidimensionalen Werke aus Papier und Karton entwickeln.


 

Irene Wölfl

Irene Wölfl setzt sich intensiv mit gesellschaftlichen Themen und Fragestellungen unserer Zeit auseinander, hinterfragt kritisch unsere Konsumgesellschaft und verweist mit ihren zarten Collagen und Kubenobjekten darauf, wie wir mit unseren Ressourcen und mit unserer Umwelt umgehen. Es ist die Poesie der kleinen Dinge, wie sie auch eine ihrer Werkserien nennt, die Ästhetik und Haptik unterschiedlicher Papiere, die sie fasziniert. So collagiert sie Zurückgelassenes, Weggeworfenes – wie Notizen, alte Fotos, Briefe, Ansichtskarten, Tapetenreste, Heftseiten, Transparentpapier, Buch- und Heftumschläge, Papierschnipsel zu kleinen Objekten und Collagen und schenkt ausgedienten, achtlos weggelegten Materialien so wieder eine neue Bedeutung. In jedem dieser Papiere steckt, so Wölfl, auch eine Geschichte, mögliche Schicksale ihrer ehemaligen Besitzer. Denn, so ist die Künstlerin überzeugt, all diese Papierrelikte haben eine lange Reise hinter sich – und öffnen im besten Fall einen Raum für eine neue Erzählung.

 Irene Wölfl, landscape #15, 2020, Collage aus Papier auf Holz, lackiert, 15 x 15 x 5 cm, © by the artist, courtesy zs art galerie

Irene Wölfl, landscape #15, 2020, Collage aus Papier auf Holz, lackiert, 15 x 15 x 5 cm, © by the artist, courtesy zs art galerie


 

Goekhan ERDOGAN

Der Frankfurter Künstler gibt uns eine Vorstellung von den vielfältigen Möglichkeiten der Verarbeitung von Papier. Seine Objekte sind eine Verbindung von Fotografie und Papier und letztlich auch eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstporträt. Sie bestehen aus 100 Fotokopien seines Passfotos, gedruckt auf Kopierpapier unterschiedlicher Größe. Diese verklebt er zu großen Blöcken und bearbeitet sie, sodass schlussendlich steinähnliche Skulpturen entstehen. Ihre polierte Oberfläche weist aufgrund der Schwarzweiß-Kopie eine marmorähnliche Oberfläche auf, die das Ausgangsmaterial nicht mehr erkennen und uns das Material von einer neuen Perspektiven aus betrachten lässt.

Goekhan Erdogan, Untitled, 2020, Drucke, Kleber, Wachs, 12.5 x 13.5 x 25.5 cm, Foto by the artist, Courtesy Galerie Heike Strelow

Goekhan Erdogan, Untitled,  2020, Drucke, Kleber, Wachs, 12.5 x 13.5 x 25.5 cm, Foto by the artist, Courtesy Galerie Heike Strelow


Leonie Mertes

Aufgefallen sind die dreidimensionalen Zeichnungen der deutschen Künstlerin Leonie Mertes auf der diesjährigen Berliner paper positions. Die von der Frankfurter Galerie Heike Strelow präsentierte Künstlerin wurde mit dem Paper Art Award in Silber ausgezeichnet. Mertes, geboren 1967, kam erst spät zur Kunst. Sie diplomierte 2021 an der Saar Universität für bildende Kunst und war von 2021 bis 2023 Meisterschülerin von Katharina Hinsberg. Leonie Mertes erprobt neue Formen der Zeichnung, indem sie diese in den Raum öffnet. Dabei verwendet sie durchaus klassische Materialien – von Papier bis zu Grafitstiften in den Stärken HB bis 2H. Nachdem sie ihre zumeist abstrakten Zeichnungen auf das Papier aufgetragen hat, entfernt sie mit dem Grafitstift mit kurzen, eng gesetzten Strichen Fasern aus dem Blatt, sodass diese förmlich herausragen, oder sie durchsticht diese mit dem Stift, sodass insgesamt eine strukturierte Oberfläche entsteht und die Grenzen zwischen Zeichnung, Relief und Wandobjekt verschwimmen. Zeit und Konzentration, so die Künstlerin, bestimmen auch ihren Arbeitsprozess mit und buchstäblich in dem filigranen Material. „Die Zeichnung wird plastisch, der Stift zerreißt und zerkratzt das Papier, die Spuren des Arbeitsprozesses wirken oft wie Narben, wie ein Makel. Tempo, Ausdauer, Druck des Stiftes prägen die Arbeit.“

 Leonie Mertes, Ohne Titel, 2024, Papier (geschnitten), Grafit, Zupfen, 29.7 x 21 cm, Foto by the artist, Courtesy Galerie Heike Strelow, © Bildrecht Wien, 2024

Leonie Mertes, Ohne Titel, 2024, Papier (geschnitten), Grafit, Zupfen, 29.7 x 21 cm, Foto by the artist, Courtesy Galerie Heike Strelow, © Bildrecht Wien, 2024


 

Heiri Häfliger

Der in Langnau, Schweiz, geborene Künstler studierte an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Häfliger arbeitet und experimentiert mit Papiermaché, das er sowohl monochrom in seiner weißen originären Farbe einsetzt als auch eingefärbt in einer vielfältigen Polychromie. Aufbauen, Formen und Deformieren sind Parameter seiner künstlerischen Praxis.

Die Ausgangsbasis ist in Wasser aufgelöstes, zu Papierpappe verarbeitetes Toilettenpapier. Die Ironie dabei ist die Ambivalenz des Materials, aber auch seine Festigkeit und Vielseitigkeit, die Häfliger einzusetzen weiß. So schafft er bewegte und dynamische Objekte mit einer gerauten Oberfläche, in der sich die Haptik des Zellstoffs in den Vordergrund spielt, wie auch Plastiken mit glatt geschliffenen Oberflächen, die keinen Rückschluss mehr auf das Ausgangsmaterial Papier zulassen. Doch steckt in der Schönheit und Ästhetik von Häfligers Objekten auch eine bittere Erkenntnis: Der Zellstoff, aus dem das Papier hergestellt wird, hat einen hohen Ressourceneinsatz, daher ist Recycling enorm wichtig. Doch ist laut ÖKO-Test aus dem Jahr 2020 nur jede fünfte verkaufte Klopapierrolle tatsächlich aus Recyclingpapier. Toilettenpapier aus frischem Zellstoff wird meist importiert und bedeutet klimaschädliche Transportwege und Wälder, die gerodet werden: Tropenwälder im Amazonasgebiet, Tropenwälder in Indonesien und kanadische Urwälder.

Heiri Häfliger, Odeur, 2018, Papiermaché, Textilglasgitter, Transparentlack, 85 x 57 x 55 cm, Foto © Lukas Schaller, Courtesy Galerie Sturm & Schober

Heiri Häfliger, Odeur, 2018, Papiermaché, Textilglasgitter, Transparentlack, 85 x 57 x 55 cm, Foto © Lukas Schaller, Courtesy Galerie Sturm & Schober


 

LISA TIEMANN

In der Zusammenführung von Papier und Keramik hat Lisa Tiemann (*1981 Kassel) einen einzigartigen und gut wiedererkennbaren Stil entwickelt.
Ihre „Couples“ (seit 2016) bringen zwei Körper, einen aus recyceltem Papier und einen zweiten aus Keramik, eng umschlungenen zusammen, sodass sich die beiden Stoffe zum gemeinsamen Objekt verbinden. Die enstehende Material-Symbiose dreht sich wortwörtlich im Kreis und führt den Blick in einen infiniten Betrachtungs-Prozess. So gelingt es der Künstlerin, Papiermaché in einen spannungsgeladenen Balanceakt und auch in eine ungewohnte Stabilität zu überführen.

2022 erhielt Tiemann den PAPER ART AWARD, sie lebt und arbeitet in Berlin.

Lisa Tiemann, COUPLE (V) XX, 2024, glasierte Keramik, Papiermaché, 58 × 51 × 42 cm, Foto: Eric Tschernow, Courtesy SCHWARZ CONTEMPORARY

Lisa Tiemann, COUPLE (V) XX, 2024, glasierte Keramik, Papiermaché, 58 × 51 × 42 cm, Foto: Eric Tschernow, Courtesy SCHWARZ CONTEMPORARY


Tilmann ZAHN

Zu sehen waren die Werke des deutschen Künstlers und Musikers Tilmann Zahn zuletzt in der Jubiläumsausstellung der Galerie Hrobksy in Wien. Es sind oft großformatige wandfüllende Objekte, die er realisiert, die jedoch nicht nur äußerst filigran wirken, sondern dies auch tatsächlich sind. Sie bestehen aus zerrissenem Papier, das in einer speziellen Mischung aus Öl und Farbe getränkt wurde, sodass schlussendlich die Oberfläche wie rostiges oder oxidiertes Metall wirkt. Auch das Reißen anstelle der geschnittenen Linie unterstreicht Themen wie Zerbrechlichkeit und Fragilität und lässt auch an den Risskanten die Materialität des Papiers erfahrbar werden. Demgegenüber steht die beeindruckende Komplexität seiner Konstruktionen, die zum Teil, vor allem in den architektonischen Formgebilden, an Eisengerüste denken lassen. Andere Werke wirken hingegen wieder organischer bis hin zu gänzlich abstrakten Objekten. Ein wesentlicher Teil der Arbeiten ist auch ihre Präsentation. So montiert der Künstler diese mit einem Abstand zur Wand, sodass der Schattenwurf zum Teil des Werkes wird und dessen dreidimensionale Wirkung noch verstärkt.

Tilmann Zahn, Ikarus, 2021, Bleistift, Grafit, Kohle, Öl, gerissenes Papier, 230 × 44 cm, Courtesy the artist, Galerie Hrobsky

Tilmann Zahn, Ikarus, 2021, Bleistift, Grafit, Kohle, Öl, gerissenes Papier, 230 × 44 cm, Courtesy the artist, Galerie Hrobsky


Walter wEER

Walter Weer gilt als Doyen im Feld der österreichischen Papierkunst. Er arbeitet mit industriell vorgefertigten Produkten wie Karton, Papier und bedrucktem Zeitungspapier. Die leichte Verformbarkeit der Materialien bietet ihm eine Fülle von Möglichkeiten, die er immer wieder aufs Neue auslotet. Dass er damit Themen wie Recycling und unseren Umgang mit Ressourcen anspricht, ist evident – jedoch nicht dem Zeitgeist geschuldet, denn für Walter Weer war dies seit Beginn seiner künstlerischen Arbeit Teil seines Denkens und Tuns ebenso wie die Beschäftigung mit Literatur. So finden sich in seinen Objekten sowohl philosophische Texte als auch Satz- und Wortsplitter, die er der täglichen Zeitungslektüre entnimmt, und die er auch gekonnt als grafische Elemente einsetzt. Konstruktion und Dekonstruktion, die Spannung zwischen Fragilität und fester Form sind wesentliche Parameter seiner Objekte und – trotz einer konkreten Formensprache – auch das Prozesshafte, das nicht so Perfekte.

Walter Weer, Schwarze Rolle- Enigma“, 2017, außen: 10 x D 50 cm, innen: 15 x D 25 cm, Karton, Papier, Schnur, bemalt, Foto: Annemarie Weer-Weninger

Walter Weer, Schwarze Rolle- Enigma“, 2017, außen: 10 x D 50 cm,  innen: 15 x D 25 cm, Karton, Papier, Schnur, bemalt, Foto: Annemarie Weer-Weninger

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