Sophie Reinhold & Ruth Wolf-Rehfeldt im Kunstverein Reutlingen

Ausstellungsansicht Kein Witz, No Joke. Sophie Reinhold & Ruth Wolf-Rehfeldt, (15.09. bis 03.11.2019). © Kunstverein Reutlingen, Foto: H. Schmidt.

Kunstverein Reutlingen

Eberhardstraße 14, 72764 Reutlingen
Deutschland

KünstlerIn: Sophie Reinhold & Ruth Wolf-Rehfeldt

Titel: Kein Witz, No Joke

Datum: 15. September bis 3. November 2019

Fotografie: Courtesy the artists and Kunstverein Reutlingen | © Kunstverein Reutlingen Foto: Chert Lüdde, Berlin / Hannes Schmidt

Ausstellungstext:

Der Kunstverein Reutlingen startete in den Kunstherbst mit einer generationsübergreifenden Werkschau. Die Ausstellung „Kein Witz, No Joke“ bringt neue Malereien und Objekte von Sophie Reinhold (*1981) und die so genannten Typewritings von Ruth Wolf-Rehfeldt (*1932) zusammen. So unterschiedlich die Künstlerinnen auch sind, teilen sie eine manische Beharrlichkeit, Präzision und einen subversiven Humor in ihren Werken.

In Sophie Reinholds Malereien überlagert sich Farbe und mit dem Spachtel aufgetragenes Steinmehl. Trotz der Schichtungen, grenzen sich die einzelnen Elemente scharf voneinander ab und es bilden sich reliefartige Strukturen, die einerseits als Ausgangspunkt für figürliche Formulierungen, andererseits für abstrakte Farbflächen dienen. Es entstehen gestische Überlagerungen, die in unterschiedliche Farbräume unterteilt sind und zu schweben scheinen. Im Spiel dieser Elemente zueinander entstehen präzise Kompositionen aus Verdichtung und Fläche, die im symphonischen Zusammenspiel wirken. Die Oberflächen der Malereien sind meist spiegelglatt poliert und erzeugen dabei eine fetischhafte Anziehungskraft. Die möbelartigen Objekte Reinholds verweisen subtil auf Häusliches und verbinden das Öffentliche mit dem Privaten. Ruth Wolf-Rehfeldt schuf aus den Zeichen ihrer Schreibmaschine kunstvolle Architekturen, Wellen und abstrakte Kompositionen. Sie stellte mit dem Mauerfall ihre künstlerische Praxis ein, doch bis dahin zirkulierte ihre Mail Art weltweit. Das Postsystem ermöglichte es ihr, sich den Restriktionen innerhalb der DDR zu entziehen.

Reinhold konfrontiert die Besucher*innen gleich beim Betreten der insgesamt mehr als 700 qm großen Ausstellungshalle mit einem Imperativ. „Gewöhne Dich nicht dran“ (2019) steht fast Ton in Ton in großen Lettern auf der Malerei, die sich als Relief entpuppt. Die Buchstaben sind per Hand in die Leinwand eingeschnitten. In Sichtachse dazu hängt das Werk „Untitled (POLI)“ (2019). Diese Arbeit, ebenfalls aus Marmormehl, Pigment und Cutouts hergestellt, assoziiert sofort durch Farbe und Schriftzug die Exekutive der Gesellschaft. Doch POLI verweist nicht nur auf „Polizei“, sondern auch auf das altgriechische „Polis“, also die Stadt, der Staat oder die Gemeinschaft und letzteres bilden wir. Die Serie aus öffentlichen Instanzen setzt sich räumlich durch die Ausstellung fort: auf POLI folgt ein gelb-schwarzes, ein orange-weiß-kariertes und ein rot-weiß-gestreiftes Relief, jeweils abstrahiert verweisend auf das die Künstlerin prägende Stadtbild – die Öffentlichen Verkehrsbetriebe Berlins, die Berliner Stadtreinigung und allgemeine Warnmarkierungen in der Öffentlichkeit. Neben diesen direkten Referenzen stellt uns Reinhold vor einer Reihe von Allegorien, fabelhaften Szenerien und mystischen Landschaften. Die vierteilige Arbeit „Die Allegorie der vier Jahreszeiten“ (2019) erscheint als moderne Interpretation mit gleichzeitiger liebevoller Reminiszenz an ein Proletariat und spielt mit geschlechtsspezifischen Klischees. „Return of the Fool“ (2019) zeigt eine wandernde Ratte, die sich schließlich als Narr entlarvt. Schon mit einem Fuß über den Abgrund schwebend muss der Absturz in die Tiefe eigentlich in der nächsten Sekunde erfolgen. So wie der Imperativ direkt eine Interaktion mit dem*der Betrachter*in herausfordert, fungieren die Tierdarstellungen als Spiegelprojektion. Reinhold vollzieht eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme auf humorvolle und subversive Weise. Die Objekte „Zwanglos“ (1 und 2) (2019) sind aus Badewannen geschnittene Sitzmöbel und suchen ebenfalls die Interaktion. Das individuelle Private und Häusliche findet subtil in den Ausstellungsraum Einzug und ergänzt damit das Gesellschaftspolitische und Öffentliche.

Ruth Wolf-Rehfeldt erschuf über Jahrzehnte ein weltweites Netzwerk durch Mail Art mit anderen Künstler*innen. Es gab keinerlei Beschränkungen außer den postalischen Formatvorgaben. Mail Art war eine Möglichkeit, die Diktatur von Zensur und Markt in hegemonialen Gesellschaften zu unterlaufen und bot trotz politischer Restriktionen eine Sichtbarkeit und Teilhabe in der internationalen Kunstszene. Auf verschiedenen Fabrikaten von Schreibmaschinen tippte Wolf-Rehfeldt akribisch und einer bestimmten Logik folgend aus Zeichen und Buchstaben auf A4, A5 und als Postkarte auf A6 überaus eindrucksvoll mal abstrakte, mal figürliche Kompositionen. Ihre Werke tragen Titel wie „In Vain“ (1972) oder „Try and Error“ (1975) geben damit auch einen intimen Einblick in das Leben der Autodidaktin als künstlerische Emanzipation. Der Verband Bildender Künstler der DDR gestattete seinen Mitgliedern jeweils immer nur fünfzig signierte Exemplare eines grafischen Werks zu drucken. Doch als angestellte „Schreibkraft“ – einem typisch weiblichen Beruf in der DDR – nutzte sie die Schreibmaschine auch im Privaten und erstellte so neben Originalgrafiken über Kohlepapierdurchschläge weitere Kopien ihrer Kunst. „Concrete Shoes“ (1970er Jahre) zeigt eine Vielzahl von Cs, Os und Ns, die sich stilisiert und diszipliniert zu einem klobigen Damenstiefel mit mittelhohem Absatz formen. Es kann als scherzhaftes Beispiel konkreter Poesie gelesen werden wie auch als Metapher für reale Bewegungsein-schränkungen und den Wunsch der Künstlerin, diese zu überwinden.

Dass ihre Werke nicht nur Artefakte einer deutsch-deutschen Geschichte sind, sondern höchste Aktualität in sich tragen, zeigt sich beispielsweise auch in der postkarten-großen Arbeit „Fragezeichen“ (Mitte der 1970er Jahre). „Ob die Natur sich nicht übernahm, als sie sich den Menschen leistete“ heißt es dort. Es handelt sich bei ihren Werken um Studien zur konkreten Poesie und Linguistik, der Konzeptkunst, des Grafikdesigns und architektonischen Formen als innovative Kombinationen von Sprache, Symbolen und visuellen Formen. Mit dem Fall der Mauer stellte Ruth Wolf-Rehfeldt ihre künstlerische Produktion ein: Mail Art erschien ihr obsolet, als die Welt sich öffnete.

Die Werke von Sophie Reinhold und Ruth Wolf-Rehfeldt in der Ausstellung „Kein Witz, No Joke“ stehen in eigentümlicher Beziehung zueinander. In der Kombination lässt sich eine ästhetische Spannung finden, die sich gegenseitig kommentiert. Als poetische Verse erzählen sie in ihrer Gesamtheit eine Ballade. Die Künstlerinnen kennen sich nicht persönlich und doch teilen sie Geschichten über das Kunstmachen, das Künstlerinnendasein, über den Sozialismus und Kapitalismus, über den Einzelnen und über die Gesellschaft. Trotz oder gerade wegen des Altersunterschieds ergibt sich eine ganz spezifische Dynamik aus Nostalgie und Modernität, die uns auf humorvolle Weise einfängt.

Der Kunstverein wird unterstützt durch Stadt Reutlingen, Land Baden-Württemberg, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, RWT, Kreissparkasse Reutlingen


Sophie Reinhold

Sophie Reinhold (*1981 in Ost-Berlin) lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Malerei an der Hochschulde für Graphik und Buchkunst, Leipzig, an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, sowie an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Sie nahm an zahlreichen nationalen und internationalen Einzel- und Gruppen-ausstellungen teil, unter anderem (Auswahl): „Ein Pfund Orangen“ (2019) im Kunstverein Ingolstadt, „There is Fiction in the Space Between“ (2019) im Neuen Berliner Kunstverein n.b.k., „The Ballad of Lost Hops“ (Solo, 2019) bei Sundogs, Paris, „Dear Hannes“ (Solo, 2018) bei Schiefe Zähne, Berlin, „What if everything were the same?“ (Solo, 2017) in der Galerie Sophie Tappeiner, Wien. 2014 erhielt sie das renommierte Villa Romana-Stipendium, Florenz, 2018 das Berliner Senatsstipendium.

Ruth Wolf-Rehfeldt

Ruth Wolf-Rehfeldt (*1932 in Wurzen) lebt in Berlin. Nach dem Krieg verließ sie die Schule und arbeitete später als Büroleiterin und Verkäuferin. 1955 heiratete sie den Künstler Robert Rehfeldt und fand eine Tätigkeit in der Ausstellungsabteilung der Akademie der Künste. Nebenher malte und zeichnete sie. In den 1970er Jahren entwickelte Ruth Wolf-Rehfeldt ihre „Typewritings“, etwa zur gleichen Zeit als Robert Rehfeldt sich mit der Produktion und Verbreitung von Mail Art beschäftigte. Rehfeldt nahm Werke seiner Frau in seine Korrespondenz auf, was für Ruth Wolf-Rehfeldt der Einstieg in die Entwicklung ihres eigenen Netzwerkes bedeutete.1975 wurde sie für den Verband der Bildenden Künstler der DDR nominiert und 1978 als Vollmitglied aufgenommen. 1990 stellte sie ihre künstlerische Produktion ein. In den letzten Jahren entwickelte sich ein neu belebtes Interesse an ihrer Arbeit. Neben zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen hat die Berliner Galerie ChertLüdde gemeinsam mit Ruth Wolf-Rehfeldt begonnen, ein umfangreiches Mail Art-Archiv aufzubauen. Einzel- und Gruppenausstellungen (Auswahl): „Introverse Arrangements“ (2019), Braunsfelder Famliy Collection, Köln; „Ruth Wolf-Rehfeldt: Collagen und Editionen“ (Solo, 2018) in der National Gallery of Arts, Tirana, „Zeichen der Zeichen“ (Solo, 2018) in der Galerie ChertLüdde, Berlin; „Für Ruth, der Himmel in Los Angeles“, (mit David Horvitz, 2018), Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden documenta 14, Kassel; „Hinter der Maske: Künstler in der DDR“ (2017), Museum Barberini, Potsdam; „DRUCK │ IMPRESSUM“ (2017) Malmö Konsthall, Malmö.