Mika im Wunderland

In ihrer Schau „Antimatter Factory“ verführt Mika Rottenberg mit Magie und Komik zu konsumkritischen Perspektiven.
Ein roter Mund ragt aus der Museumswand hervor. Zwischen den geschürzten Lippen blitzt Licht auf. Wer sein Auge vor das fleischige Gucklock hält, erblickt im Video ein wildes Setting: bunte Wände, noch mehr dicke Münder, sowie Zungen und Hinterteile, aus denen Farbfontänen spritzen. Was für ein pralles Spektakel! Mika Rottenbergs Mini-Peepshow „Lips (study #3)“ von 201 bietet Augenschmaus, leicht obszön und voller Witz.
Löcher haben mich schon immer interessiert, auch Höhlen und Tunnel. Das liegt wohl an der Omnipräsenz phallischer Formen in unserer Kultur.
So erklärte die Künstlerin ihre Faszination beim Artist Talk im KunstHausWien. Dort macht ihre retrospektiv angelegte Wanderschau „Antimatter Factory“ nach dem Basler Museum Tinguely und vor dem Lehmbruck Museum in Duisburg Station.

Mika Rottenberg, Installation View, New Museum, New York, 2019, Courtesy the artist and Hauser & Wirth, © Mika Rottenberg, Foto: Dario Lasagni
In ihren Videoarbeiten, in denen nie ein Wort gesprochen wird, verknüpft Rottenberg filmisches Doku-Material mit fiktiven Sequenzen. Ihre Videoinstallation „Cosmic Generator“ (2017) führt in ein imaginäres Tunnelsystem, das einen Großmarkt für Billigwaren im chinesischen Yiwu, ein kalifornisches Chinarestaurant und die mexikanische Grenzstadt Mexicali verbinden soll. Warum dürfen Waren frei passieren und Menschen nicht? Diese Frage brachte die 1976 geborene Künstlerin zu ihrer Recherche über unterirdische Gänge, die an der Grenze zwischen Mexiko und den USA existieren sollen.
In „Cosmic Generator“ haben Frauen die Kontrolle über skurrile kleine Männer, die durch Tunnel kriechen. Während man – zwecklos – versucht, die Handlung von „Cosmic Generator“ zu verstehen, brennen sich die Bilder von überbordenden Shops mit Plastikgirlanden und -blumen ins Gedächtnis ein.

Cosmic Generator, Mika Rottenberg. Antimatter Factory, KunstHausWien, © Mika Rottenberg, Foto: Michael Goldgruber
Ihre künstlerische Antimaterie fährt unmittelbar ein und kitzelt eingeschlafene Organe für Ästhetik wieder wach.
Ins Souterrain führt auch Rottenbergs Videoinstallation „NoNoseKnows“, die sie 2015 auf der Biennale von Venedig bekannt machte. Eine Arbeiterin hockt in einem schmutzigen Keller und schabt Perlen aus Muscheln. Zuvor werden den Mollusken mit Pinzette Gewebeteilchen eingesetzt, damit sie Perlmutt absondern. Von diesen Sequenzen aus einer echten chinesischen Muschelfarm führt der Film in ein Büro, in dem eine Frau mit einer grotesken Nase sitzt. Als ihr der Ventilator ins Gesicht bläst, muss sie wiederholt niesen und bei jedem „Hatschi“ erscheint im Gegenschnitt ein Fertiggericht, so als hätte sie es ausgeschnupft. Die Muschel reagiert mit Perlmutt auf den Reiz in ihrem Fleisch, die Officeworkerin erzeugt allergisch Berge von ungustiösem Essen. „NoNoseKnows“ weist auch darauf hin, wie Massenproduktion entwertet, denn durch die Schwemme an günstigen Zuchtperlen haben die Perlmuttkugeln ihre Exklusivität verloren.

NoNoseKnows, Mika Rottenberg, Courtesy the artist and Hauser & Wirth, © Mika Rottenberg
Die Lampenskulpturen aus gemahlenem, wiederverwertetem Haushaltsplastik lassen Rottenbergs subversiven Humor vermissen.<br type="_moz">
Rottenbergs Kunst, die sie selbst „Social Surrealism“ nennt, kreist um Hyperkapitalismus und Globalisierung. Aber viel grundsätzlicher interessiert sich die Künstlerin für Energie, Wachstum und wie natürliche und artifizielle Stoffe miteinander verschmelzen. Für organische „Produktion“ stehen die überlangen Nägel von Rottenbergs naturalistischen Fingerskulpturen, ebenso wie die Haare, die etwa in der Wandarbeit „Ponytail (honey blonde)“ als Zopf wild wackeln.
Finger, Pferdeschwänze, Pflanzen und Gemüse hat Rottenberg ab 2020 als bewegliche Elemente in ihre Kunstmaschinen eingebaut, für die das Publikum in Pedale treten oder an Kurbeln drehen muss. Bei diesen kinetischen Skulpturen als Mitmachangebote springt der Funke jedoch nicht über. Auch die Lampenskulpturen aus gemahlenem, wiederverwertetem Haushaltsplastik lassen Rottenbergs subversiven Humor vermissen.

#2 with Salad, Mika Rottenberg. Antimatter Factory, KunstHausWien, © Mika Rottenberg, Foto: Michael Goldgruber
Ganz anders die Videoarbeit „Spaghetti Blockchain“, für die der Ringtunnel „Large Hadron Collider“ am Genfer Forschungsinstitut CERN als Inspiration diente. Die größte Apparatur zum Nachweis des kleinsten (Hicks-)Teilchen hat Rottenberg zu einer Blockkette abstruser Materialstudien angeregt. Es zischt, brummt und knistert, wenn zuckerlbuntes Plastik verbrennt oder zerschnitten wird. Kribbelnder ASMR-Sound wechselt mit dem Vibrato einer mongolischen Kehlkopfsängerin ab.
Alles albern? Gerade diese Ideen wären oft die besten, hat Rottenberg im Künstlergespräch verraten. Ihre künstlerische Antimaterie fährt unmittelbar ein und kitzelt eingeschlafene Organe für Ästhetik wieder wach.
Mehr Ausstellungstipps in unserer aktuellen Ausgabe 01/2025.

Spaghetti Blockchain, Mika Rottenberg, Courtesy the artist and Hauser & Wirth, © Mika Rottenberg
Kunst Haus Wien
Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien
Österreich