Im Porträt

Jenny Savilles auffordernder "Gaze"

Jenny Saville, Gaze, 2021-2024 Private Collection, © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Prudence Cuming Associates Ltd., Courtesy Gagosian and the artist

Jenny Saville ist eine der bekanntesten Vertreter:innen der Young British Artists, was sich auch in der Nachfrage ihrer Bilder am Kunstmarkt widerspiegelt. 2018 erzielte ihre Arbeit „Propped“ bei Sotheby’s in London umgerechnet 12,4 Millionen US-Dollar und Savilles Werk avancierte in diesem Jahr zum teuersten einer lebenden Künstlerin. In ihrem Œuvre setzt sie sich mit der Tradition von Körperbildern in der Kunstgeschichte auseinander – von der Antike und der christlichen Ikonographie über Meister der Renaissance wie Leonardo und Raffael bis hin zu Egon Schiele, Picasso, Francis Bacon und Lucian Freud und übersetzt sie auf unkonventionelle Weise in die Gegenwart. Ihre figurative Malerei verbindet dabei Gegenständlichkeit und Abstraktion, Idealisierung und Dekonstruktion. Die Albertina zeigt mit „Gaze“ nun die erste Ausstellung der Künstlerin in Österreich. Mit einer Auswahl von Gemälden aus den Jahren 2003 bis 2024 umfasst die Schau die letzten zwei Jahrzehnte von Savilles Karriere.


Im Jahr 2003 schrieb die feministische Kunsthistorikerin Linda Nochlin, bekannt für ihren provokanten Essay „Why Have There Been No Great Women Artists?“, über das Werk der Künstlerin Jenny Saville (*1970). Nochlin argumentierte, dass die Kraft von Savilles Gemälden nicht nur aus ihrem Format und den fast skulptural strukturierten Oberflächen resultiere, sondern auch aus der Ambivalenz ihrer Motive – ihre Figuren seien zugleich eindrucksvoll und beherrschend, doch ohne Beschönigung dargestellt. 

Saville war die einzige figurative Malerin in der berühmten Ausstellung „Sensation“ (1997) in der Royal Academy, die die Generation der Young British Artists (yBa) einem breiteren institutionellen Publikum vorstellte. Gleichzeitig gehörte sie zu jenen, die eine ästhetische Vorliebe für provokative Bilder teilten und sich häufig mit Themen wie Sexualität, Geld und Gewalt auseinandersetzten. Ihr Beitrag zur Ausstellung war „Propped“ (1992), ein auffälliges Selbstporträt, das ihren Körper in monumentaler Größe zeigte – voluminös und imposant auf einem Singer-Nähmaschinenhocker sitzend. Es erregte bereits bei der Ausstellung zum Abschluss ihres Studiums Aufmerksamkeit, erschien auf dem Cover der Times Saturday Review und fiel dem Sammler Charles Saatchi ins Auge. Es ist zugleich ein ironisches Statement und eine künstlerische Absichtserklärung: eine kraftvolle Kritik an starren Schönheitsnormen und gleichzeitig eine Studie sowie möglicherweise eine Hommage an die lange kunsthistorische Tradition, die Savilles Arbeit vorausgeht.

Jenny Saville, Propped, Öl auf Leinwand, 213 x 183 cm, 1992, Foto: Sotheby's

Jenny Saville, Propped, Öl auf Leinwand, 213 x 183 cm, 1992, Foto: Sotheby's

Ich wollte eine Kunst finden, die sich anfühlte wie die Rohheit des Gebärens.

Jenny Saville

Ihre frühen Werke ziehen unweigerlich Aufmerksamkeit auf sich – als kraftvoller Gegenentwurf zur objektifizierenden Darstellung von Frauen in den Mainstream-Medien. Zugleich sind sie als malerische Arbeiten eine verführerische Hommage an das Porträt als Kunsthandwerk. Über die Jahrzehnte hat sie ihr Schaffen konsequent weiterentwickelt, wobei sie eine Vielzahl von Medien nutzt – darunter Kohlezeichnungen, Pastell, Acryl, Ölpastell und Ölmalerei – und ihr Themenspektrum erweitert hat. Sie malt nicht nur figurative Werke, sondern auch Porträts; nicht nur überzeichnete Frauenkörper, sondern auch vielschichtige, mehrfach übereinandergelegte Figuren, geschlechtlich ambige Menschen, intersexuelle Personen sowie Anspielungen auf klassische Kunst. 

Saville begann ihr Studium 1988 an der Glasgow School of Art – in einer Zeit, in der die Schule eng mit einer Gruppe männlicher Maler assoziiert wurde, die heute als die „New Glasgow Boys“ bekannt sind: Steven Campbell, Stephen Conroy, Ken Currie, Peter Howson und Adrian Wiszniewski. Diese figurativen Maler bevorzugten einen kühnen, expressiven Stil in psychologisch aufgeladenen Szenarien – ein unbestreitbarer Einfluss, den Saville weitergeführt hat. Die Themenwahl und die genderspezifische Ausrichtung von Savilles Gemälden sind klare Unterscheidungsmerkmale, doch diese zu sehr zu betonen, würde die immense Körperlichkeit zu wenig würdigen, die sie in ihre Werke einbringt.
Sie wuchs schnell über ihre Verbindung mit den „Glasgow Boys“ hinaus, ebenso wie über jene mit den „yBas“ – einer losen Künstlergruppe um Damien Hirst, Tracey Emin und Sarah Lucas. Es war ohnehin überraschend, dass sich jemand, der so sehr der Malerei verpflichtet ist, in eine multidisziplinäre Künstler:innenclique einfügen konnte.

Jenny Saville, Transvestite Paint Study, 2003–2004, Öl und Kohle auf Papier, 152 x 122 cm, Privatsammlung, England © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Courtesy the artist and Gagosian

Jenny Saville, Transvestite Paint Study, 2003–2004, Öl und Kohle auf Papier, 152 x 122 cm, Privatsammlung, England © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Courtesy the artist and Gagosian

In den folgenden Jahren spiegelte ihre Entwicklung stärker ihre Wurzeln als Malerin wider als jene einer Provokateurin. Ein Weg für Saville hätte darin bestehen können, den schockierenden Effekt von „Propped“ weiter zu verfolgen – sich ausschließlich auf Körperformen außerhalb der traditionellen Schönheitsnormen zu konzentrieren und ihre Arbeit in den Kontext der populären Bildkultur und Medienanalyse zu stellen. Doch stattdessen entschied sie sich für einen anderen Pfad: Sie lenkte die feministische Perspektive und das medienbewusste Kunstschaffen ihrer Zeitgenoss:innen zurück in ein Medium, das lange vernachlässigt, übersehen und als ungeeignet angesehen worden war. 

Glasgow war nicht nur der Ort, an dem sie vier Jahre lebte und studierte, sondern auch eine künstlerische Gemeinschaft und ein Erbe, das sie als Künstlerin prägte. Doch während es weiterhin ihren Hintergrund prägte, begann sie sich zunehmend auf Italien zu konzentrieren: Nach einem kurzen Aufenthalt in New York, wo sie in einer Praxis für Schönheitschirurgie die Wünsche und Erfahrungen von Frauen studierte, die sich plastischen Operationen unterzogen, lebte sie zwischen 2003 und 2009 in Palermo. Dort setzte sie sich intensiv mit den Alten Meistern auseinander. Ihre Figuren waren oft vor leeren oder unbestimmten Hintergründen platziert oder so nah beschnitten, dass nur ihr Gesicht sichtbar war; zunehmend erweckten sie den Eindruck, in einem Museum oder einem ähnlich sakralen Raum zu stehen – etwa mit der Statue und dem Sockel in „Fate I“ (2018).

Jenny Saville, Fate I, 2018, Öl auf Leinwand, 260 x 240 cm, The Nixon Collection © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Mike Bruce, Courtesy Gagosian

Jenny Saville, Fate I, 2018, Öl auf Leinwand, 260 x 240 cm, The Nixon Collection © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Mike Bruce, Courtesy Gagosian

Saville entscheidet sich für Spannung statt Auflösung.

Chris Hayes

Als Malerin bewegt sich Saville mit ihren Aktdarstellungen innerhalb jahrhundertealter Debatten über die Darstellung des menschlichen Körpers und stellt zugleich die Vorstellung infrage, dass die Abbildung nackter Frauen per se unfeministisch sei. In Interviews wechselt sie mühelos zwischen persönlichen Erfahrungen, der Diskussion von Boulevardmedien als Inspirationsquelle, ihrer Vorliebe für Fotografie gegenüber dem Arbeiten mit Live-Modellen und einer tiefen Wertschätzung für die Kunstgeschichte. Diese divergierenden Referenzpunkte und Herangehensweisen werden oft als Gegensätze betrachtet, doch Saville vereint sie mühelos. Nur wenige Künstler:innen, die sich so intensiv mit der zeitgenössischen Bildkultur beschäftigen, finden in der Malerei ein angemessenes Ausdrucksmittel – und ebenso wenige, die von den Alten Meistern fasziniert sind, fühlen sich mit Fotografie und digitalen Techniken wohl.

Jenny Saville, Song of Songs, 2020–2023, Öl und Ölkreide auf Leinwand, 180 x 240 cm, Fredriksen Family Art Collection © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Prudence Cuming Associates Ltd. Courtesy Gagosian

Jenny Saville, Song of Songs, 2020–2023, Öl und Ölkreide auf Leinwand, 180 x 240 cm, Fredriksen Family Art Collection © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Prudence Cuming Associates Ltd. Courtesy Gagosian

„Nach der Geburt meiner Kinder wollte ich eine Kunst finden, die sich anfühlte wie die Rohheit des Gebärens.“, sagte Saville einmal über ihre Zeit in Palermo. Als Künstlerin, die sich seit Beginn ihrer Karriere mit der Darstellung von Frauen beschäftigt und diese herausgefordert hat, ist Mutterschaft ein naheliegendes Thema für sie. Eigene Erfahrungen beeinflussten ihre Herangehensweise an die Malerei und prägten ihr Verständnis für ihre Arbeit im Atelier. Während der Schwangerschaft zog sie Parallelen zwischen der Manipulation von Farbe auf der Leinwand und den „tiefgreifenden“ Ähnlichkeiten mit der „Fleischwerdung in meinem Körper“.

Praktische Aspekte der Mutterschaft hatten ebenfalls einen direkten Einfluss auf Savilles Malerei. Zeichnen wurde für sie ein nützliches Mittel, um Ideen zu entwickeln, wenn sie weniger Zeit hatte, und ihr Umgang mit Fotografie wurde pragmatischer: Statt darauf zu bestehen, ein perfektes Stillleben in einem einzigen Bild zu komponieren, machte sie Tausende von Fotos und fügte sie später zu dem gewünschten Bild zusammen. Diese Arbeitsweise zeigt sich in ihren Gemälden direkt – etwa in der Schichtung von Körpern in Bewegung in „Chapter (For Linda Nochlin)“ (2016). Mutterschaft spiegelt in Savilles Werk ihre langjährige Faszination für geschlechtliche Ambiguität wider und vermittelt das Gefühl, dass Identität selbst eine konstruierte und veränderbare Größe ist. 

Nochlin kritisierte die Strukturen, die Frauen aus dem Kunst-Kanon ausschlossen. Savilles Werk hingegen spricht von den Herausforderungen, die sich daraus ergeben, innerhalb dieses Kanons zu agieren: dass künstlerische Identität nicht einfach beansprucht wird, sondern dass sich Künstler:innen mit der Komplexität der Positionierung innerhalb dieses Systems auseinandersetzen müssen. Sie hat alles erreicht, wofür frühere Generationen gekämpft haben – Sichtbarkeit, institutionelle Anerkennung, kommerziellen Erfolg –, doch ihre Praxis bleibt ein Ort der Verhandlung: weder vollständig der Aktivismus-Erwartung folgend noch sich der kunsthistorischen Tradition unterwerfend. Saville entscheidet sich für Spannung statt Auflösung – sie absorbiert und reframed Einflüsse und arbeitet mit und gegen Erwartungen.

Jenny Saville, Chapter (For Linda Nochlin), 2016-2018, © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Rob Mckeever, Courtesy Gagosian and the artist

Jenny Saville, Chapter (For Linda Nochlin), 2016-2018, © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Rob Mckeever, Courtesy Gagosian and the artist

Albertina

Albertinaplatz 1, 1010 Wien
Österreich

JENNY SAVILLE. GAZE

bis 29.06.2025

Mehr Informationen

Jenny Saville, Skene, 2023, The Nixon Collection, © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Lucy Dawkins, Courtesy Gagosian

Jenny Saville, Skene, 2023, The Nixon Collection, © Jenny Saville / Bildrecht, Wien 2025, Foto: Lucy Dawkins, Courtesy Gagosian