Fehler in der Matrix?
Die Galerie Schnitzler Lindsberger zeigt mit "Lucy Dreams" noch bis zum 06. März 2025 Werke von Anja Korherr.
Die klassische Kunstgeschichte hat das Problem des Raumes ins Zentrum gestellt. Wie kann man sich Dreidimensionalität in der Kunst vorstellen? Wie kommt sie vor und unter welchen Bedingungen erleben wir welche Raumerfahrung? Aus heutiger Sicht ist der digitale Raum, der Cyberspace, das, was uns nicht nur innerhalb der Künste bestimmt, sondern auch im täglichen Leben. Wir gehen heute grundsätzlich von einer vielschichtigen und komplexen Idee des Räumlichen aus. Das Visuelle hat sich unabhängig von den Erkenntnissen der Kunstgeschichte weiter ausdifferenziert. War in der Frührenaissance die Entdeckung der Perspektive ein wahrer Paradigmenwechsel, so müssen wir aktuell feststellen, dass diese Methode der Illusionsbildung erst der Anfang war und man in der Folge Räumlichkeit unterschiedlich mit Bedeutung versehen hat.
Von der Bühne ins Bild: Anja Korherrs vielschichtige Illusionen
Anja Korherr vollzieht den Schritt vom Gemälde in den Raum in ihrer Arbeit nicht. Sie bleibt im illusionistischen Schema des Bildes. Die Gemälde der jungen Künstlerin muten zwar sehr naheliegend an. Die Referenz zu den wesentlichen Formulierungen der Moderne – Kubismus, Futurismus oder Rayonismus – sind zweifellos erkennbar, erschöpfen sich aber keineswegs darin. Der Bezug zur Kunstgeschichte ist für sie gleichsam eine Methode, das Bekannte umzudeuten, neu zu erleben. Dabei geht Korherr vielschichtig vor. In realen Raumsituationen, die mit verschiedenen Gegenständen oder Versatzstücken ausgestattet sind, lässt die Künstlerin Akteur*innen auftreten, denen weder gesagt wird, was sie tun sollen, noch wie das auszuführen sei. Sie beobachtet das Geschehen und hält es in fotografischer Form fest. Aus den unzähligen Aufnahmen baut sie in einer nächsten Phase ihre Bildprogramme. Der performative Akt, der zwar Basis für das Bild ist, verliert sich im Gemälde wieder. Allerdings entsteht durch die Kombinationen und Verschachtelungen gewisser Elemente eine Art Gleichzeitigkeit. Viele fotografische Bilder erzeugen damit ein einziges Gemälde. Durch unterschiedliche Untermalungen bzw. Grundierungen – beispielsweise durch Leuchtfarben – entstehen außerdem spezielle Lichtsituationen. Diese wiederum sind imstande, die neu entstandene Szenerie zu vereinheitlichen, sie aber gleichzeitig auch in eine surreale, traumhafte Realität zu versetzen. Die Logik von Traumbildern oder anderen inneren Bildern (Gedanken- oder Erinnerungsbildern) ist für die Künstlerin wichtig.
Nicht zuletzt beschäftigt sie sich intensiv mit sogenannten Klarträumen, in denen sich die träumende Person bewusst ist, dass sie träumt. Auf diese Weise lassen sich Traumsequenzen sogar beeinflussen. In diesem Fall ist man an der Entstehung und Steuerung der Traumbilder gleichsam direkt beteiligt und wird selbst zum Medium. Korherr geht aber nicht direkt von selbst erlebten Bildern aus, vielmehr bedient sie sich ihrer Logik, ihrer Funktionsweisen.
Wie im kubistischen Bild sind auch hier Unmöglichkeiten plötzlich möglich. Was hier deutlich wird, ist die Tatsache, dass das Bild nomadisiert. Es gibt also mehrere Orte des Bildes. Die endogenen, also Traum-, Erinnerungs- und Gedankenbilder, nehmen einen Ort des Bildes ein, die reale Umsetzung, gleichsam die Konkretisierung in einem Bildmedium, ist ein anderer Ort des Bildes. Dabei ändert sich, je nach technischer Entwicklung, das Trägermedium: das Tafelbild zuerst, dann die technischen Bildmedien – Monitore, Projektionen. In Korherrs Malerei ist trotz der scheinbaren Konventionalität das Bewusstsein der digitalen Bildstrukturen inhärent. Da die Bildinformation im digitalen Bild elektronisch gespeichert ist, werden alle Punkte des Bildes (Pixel) zu Variablen. Durch die Virtualität der Speicherung kann jede Information in Echtzeit geändert werden – das geschieht sowohl von außen (Betrachter*in) als auch von innen (Maschine). Damit wird das Bild selbst zu einem dynamischen System aus Variablen und das statische Bild wird zu einem dynamischen Bildfeld. Das alles sieht man nicht in Korherrs Gemälden. Man spürt es, aber man kann sich dem aufgrund unseres heutigen Wissenstandes nicht mehr entziehen. Somit sind ihre Bilder auch dadurch gleichsam in Bewegung. Kraftlinien und perspektivische Variationen, wie sie beispielsweise in der Malerei des Futurismus praktiziert wurden, unterstützen diesen Vorgang.
Anja Korherr baut zu Beginn tatsächliche Sets auf. Diese Szenerien erinnern an Bühnenbauten, aber auch an Filmsets. In der Filmarchitektur war die Raumwahrnehmung ein zentraler Impuls – die intensive Beziehung zwischen Architektur und Bild. Man denke nur an die bahnbrechenden Filme Metropolis (1925) von Fritz Lang, The Fountainhead (1949) von King Vidor oder L’Inhumaine (1923) von Marcel L’Herbier und Les Mystères du château du dé (1929) von Man Ray. Die filmische Wahrnehmung des Räumlichen verwandelt die dreidimensionalen Strukturen der Architektur gleichsam in die Zweidimensionalität der Bildform des Raumes. Fiktive bzw. abstrahierte Architektur- und Raumvorstellungen sind damit erklärbar. Die reale Architektur löst sich in der filmischen Raumgestaltung auf und bekommt im Kamerabild eine neue Realität. Somit kann man in Anja Korherrs Fall feststellen, dass sich auch dort die reale Ebene des zuvor gebauten Sets auflöst und in der Realität der Malerei neu entsteht. Dabei ändern sich nicht nur formale Aspekte, sondern auch Bedeutungs- und Funktionszusammenhänge.
Zwischen Bar und Bühne: Räume des Ungewissen
Man kann die Begrifflichkeit des Raumes in Korherrs Fall auch noch weiter ausdehnen. Dabei wären neben den formalen Kriterien auch ideelle Faktoren zu beachten. Anja Korherr legt zwar in der Phase des Sets keinen Inhalt fest. Die Darsteller*innen sind nicht definiert, haben keine sichtbare Rolle wie im tatsächlichen Leben. Sie sind gleichsam Versatzstücke. Trotzdem aber können wir diese Menschen nicht unschuldig, nicht unbefangen sehen. Wir suchen nach Beziehungen, nach Hierarchien oder nach Bestimmungen, denen diese Figuren folgen. Die Objekte, mit denen sie hantieren, die sie betrachten, die ihnen beigestellt sind, sagen wenig darüber aus. Sie verunklären eher noch weiter. Oft glaubt man die Inhalte zu erkennen und die Dynamiken zwischen den dargestellten Personen sofort entschlüsselt zu haben. Jedoch wird man, wie im kubistischen Raumerlebnis, enttäuscht, wenn man zu sehr an die konventionellen Seherfahrungen und an einen rationalen Bildinhalt glaubt.
Was machen diese Menschen da? Worin sind sie gefangen? Sie wirken oft wie in überdimensionalen Laboranlagen arbeitend, forschend oder selbst am Prüfstand stehend. Gleichzeitig sind sie aber auch in einem Raum, den man als Bar identifizieren könnte. Vor und hinter der Bar existieren zwei völlig unterschiedliche Seinsformen. Der Raum vor der Bar ist ein kollektiver Raum. So nicht ein einsamer „Nighthawk“ am Tresen steht, sind es meist mehrere Leute, eine Gruppe, die nicht notwendigerweise zusammengehört, die vielmehr aus unterschiedlichen Sozietäten besteht, die sich da sammeln. Hinter der Bar kann es mitunter einsam sein. Oft ist dort eine einzige Person, die mit den unterschiedlichen Gruppen ihr gegenüber interagiert. Ein in höchstem Grad psychologischer bzw. sozialer Raum entsteht da.
Anja Koherr kennt diesen Kosmos aufgrund ihrer Joberfahrung hinter diversen Bars sehr gut. Sie stellt keine direkten Studien an, die man von einer derartigen Versuchsanordnung ableiten könnte. Sie verarbeitet dieses Schauspiel mit all seinen Facetten unbewusst. Es ist eine monumentale performative Struktur, in der sie sich wiederfindet. Die Gleichzeitigkeit der Charaktere und die Unbestimmtheit der räumlichen Struktur – durch Spiegel und Beleuchtung noch gesteigert – können helfen, Anja Korherrs Bilder zu verstehen.
Auf sehr spannende Weise verdichtet die Künstlerin all diese Aspekte zu einem Kosmos, der nicht selten verunsichert. Der facettierte bzw. fragmentierte Raum unterstützt diesen Aspekt zusätzlich.
Die Errungenschaften der Kunstgeschichte in Ehren, aber sie sind nur das Eingangstor in eine fiktive Welt mit sehr realistischen Bezügen. Die Welt als Bild (Anders, Baudrillard, Virilio) ist eine Tatsache, die unser Bewusstsein prägt, die uns oft zwischen Wirklichkeit und Fiktion kaum unterscheiden lässt. Veränderungen in der Visualität sind heute auch oft Veränderungen der Realität. Könnten Anja Korherrs Bilder Zeugen der Anfälligkeit der Matrix sein?
Galerie Schnitzler und Lindsberger
Rechbauerstrasse 21, 8010 Graz
Österreich
Anja Korherr
Lucy Dreams
bis 06. März 2025