6 Jahrzehnte Liliane Lijn

Mit „Arise Alive“ präsentiert das mumok das sechs Jahrzehnte umfassende, medienübergreifende Schaffen von Liliane Lijn, einer Pionierin der kinetischen Kunst.
Liliane Lijn wurde 1939 in New York geboren, wohin ihre Eltern – beide aus russischen jüdischen Familien stammend – vor den Nationalsozialisten geflohen waren. Sie ging Ende der 1950er-Jahre nach Paris, verbrachte einige Jahre in Athen und lebt seit 1966 in London. Die vielen kulturellen Kontexte und Sprachen haben ihr facettenreiches Werk durchaus geprägt. Nun wird es von der Kuratorin Manuela Ammer in Kooperation mit dem Haus der Kunst München im mumok erstmals zu einer reichhaltigen und vielgestaltigen Schau versammelt.
Frühe Zeichnungen zeugen von Liliane Lijns Kontakt mit dem Surrealismus in Paris und dessen Fokus auf den Traum und das Unbewusste. Doch sehr bald kristallisierte sich ihr spezielles Interesse an Bewegung, Licht und Dynamik heraus. Die Übertragung von Energie wurde zum kennzeichnenden Faktor in ihrem Œuvre. Bewegung ist seit den frühen 1960er-Jahren nicht mehr an die Darstellung in ihren Zeichnungen oder Malereien gebunden, sondern wird in bewegten Objekten konstruktiver Teil der Arbeiten. Die motorisierten „Poem Machines“ dieser Zeit zeigen Lijns intensive Auseinandersetzung mit Sprache und Poesie. Sie montiert einzelne Bedeutungsebenen aus Gedichten von befreundeten Poeten auf sich drehende Zylinder und Kegel, versetzt damit die Wörter in Schwingungen und „befreit“ sie von einer fixen Bedeutung.

Liliane Lijn, Get Rid of Government Time, 1962, Letraset auf lackierter Metalltrommel, Kunststoff, lackiertes Metall, Motor, Text aus einem Gedicht von Nazli Nour, 35 x 38,2 x 35 cm, Courtesy Stephen Weiss, London Foto: Richard Wilding © Bildrecht, Wien 2024
Liliane Lijn hat weibliche Archetypen in eine artifizielle Gegenwart transferiert, im Industriellen Göttlichkeit dargestellt.
Generell sucht die Künstlerin, sich von fremdbestimmten Ordnungen zu befreien, unbekümmert gegenüber Kategorien scheint ihre Vorgangsweise spielerisch und leicht, und doch birgt das Werk hintergründig eine subversive, mitunter bedrohliche Ambivalenz.
Lijn unterwandert das Denken in simplen Dualismen, ihr Werk bewegt sich zwischen Wissenschaft, Spiritualität, östlicher Philosophie, Kosmologie und Mythen. Seit den 1970er-Jahren kommen explizit feministische Fragestellungen hinzu. Sie sucht nach einer Neudefinition des Weiblichen, setzt sich mit dem menschlichen Körper auseinander und verbindet antike Mythologie mit moderner Technologie. Die Formensprache wird organischer, die Farben werden leuchtender.

Liliane Lijn, Inner Space Outer Space 1, 1969, Collage, 56 x 55 cm, Courtesy Stephen Weiss, London, Foto: Stephen Weiss © Bildrecht, Wien 2024
Seit 1979 schafft sie aus industriellen Materialien wie Aluminium oder Stahl ihre „Female Figures“. Als Köpfe setzt sie diesen Skulpturen optische Glasprismen auf, wie sie auch in militärischen Beobachtungsgeräten verwendet werden. Diese Glasprismen, die das Licht in die Spektralfarben eines Regenbogens aufbrechen, stehen metaphorisch für die Klarheit des Geistes, Erkenntnis und Erleuchtung. In Lebensgröße stehen diese hybriden Figuren den Betrachter:innen gegenüber und widersetzen sich normativen geschlechterspezifischen Zuschreibungen.

Liliane Lijn, Four Figures of Light, 1978, Installation, Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus, Foto: Georg Petermichl / mumok © Bildrecht, Wien 2024
In einem separaten, zentral positionierten Raum ist mit „Conjunction of Opposites: Lady of the Wild Things and Woman of War“ eine performative Installation als herausragendes Werk aus den 1980er-Jahren zu sehen: In diesem sehr speziellen „Cosmic Drama“ aus bewegter Skulptur, Sound und diversen Lichteffekten führen zwei cyborgartige überlebensgroße Figuren einen Dialog. „Woman of War“, Sinnbild für Aggression und Wut, singt ein Lied, das für Lijn die Inspirationsquelle zu ihrer Gestalt gewesen ist, worauf die „Lady of the Wild Things“, gleichsam Schutzgöttin der Natur, mit dynamischen Lichtsignalen reagiert. Liliane Lijn hat weibliche Archetypen in eine artifizielle Gegenwart transferiert, im Industriellen Göttlichkeit dargestellt. Die gegensätzlichen Pole sind zu einem aktiven und produktiven Kraftfeld verspannt.
„Electric Bride“ von 1989 ist von ähnlicher Vieldeutigkeit: Die bizarre Gestalt, mit geradezu barocker gedrehter Ausladung ihrer unzähligen Schichtungen, ist eingeschlossen in einem Stahlkäfig und mit diesem durch rotglühende Drähte verkabelt. Sie flüstert ein Gedicht, das vom Mythos einer sumerischen Göttin und deren Abstieg in die Unterwelt erzählt. Lijn verleiht hier einem anderen weiblichen Archetyp Gestalt, eigenmächtig, kraftvoll und in rätselhafter Unheimlichkeit.

Liliane Lijn, Conjunction of Opposites: Woman of War and Lady of the Wild Things, 1983–86 Installation, zwei Mixed-Media-Performance-Skulpturen, 400 x 800 x 400 cm, Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus, Foto: Thierry Bal © Bildrecht, Wien 2024
mumok
Museumsplatz 1, 1070 Wien
Österreich